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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

992-994

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Heidrich, Marius

Titel/Untertitel:

Kindersegen. Der Geburtenrückgang als soziokulturelle Herausforderung für Gesellschaft und Protestantismus (1949–1989).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022 XI, 483 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Geb. EUR 94,00. ISBN 9783161613937.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Diese historische Dissertation wurde im Jahr 2019 von der philosophischen Fakultät der Universität Erfurt angenommen; sie entstand im Rahmen der interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe »Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989«. Zum Ausgangspunkt für Marius Heidrich wird die Korrelation zwischen demographischem Wandel, ihrer statistischen Erhebung, dem Älterwerden der deutschen Bevölkerung und dem Geburtenrückgang auf der einen sowie dem zunehmenden Mitgliederschwund der beiden großen Kirchen auf der anderen Seite (1 ff.). Er untersucht in Fallstudien protestantische Deutungen des demographischen Wandels in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik (5). Diesen Diskurs prägen Besonderheiten: der regelmäßige Rückgriff auf die Krisenmetaphorik (6 f.) sowie die personelle und inhaltliche Belastung des Begriffs Bevölkerungspolitik durch die Kontamination mit dem Nationalsozialismus, woran auch die evangelische Kirche beteiligt war (15). H. konzentriert sich dabei auf den Leitbegriff der »alternde[n] Gesellschaft« (24) und verfolgt das Ziel, den Anteil des Protestantismus an diesen demographischen Debatten personell und inhaltlich herauszupräparieren (25). Dazu beschäftigt er sich mit den Funktionsfeldern der evangelischen Akademien, ihren Tagungen und Konsultationen, den Beratungen der Ministerialbürokratie und mit parlamentarischen Auseinandersetzungen (27).

Am Anfang stellt H. eine Reihe von Hypothesen auf. Die erste lautet: »Der Protestantismus war ein aktiver Mitgestalter des bundesdeutschen Sozialstaates, der seine Formen der Mitgestaltung an die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Bundesrepublik anpasste und sie zugleich in Wechselwirkung mitbestimmte.« (28) Sozialethik, Wertedebatten und Demographie verschränken sich miteinander und führen zu Neuentwicklungen, insbesondere durch den aufkommenden Feminismus und die feministische Theologie sowie auf dem Feld der Sexualethik (29). Die zweite Hypothese lautet: »Der Bevölkerungsdiskurs über ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹, über Sexualität, über das Zusammenleben in Ehe, Familie und Kirche sowie über den Eigenwert von Kindern für die Glaubens- und Solidargemeinschaft diente der Disziplinierung und Normierung voranschreitender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und war Teil hegemonialen Ordnungsdenkens.« (Ebd.) Solches Ordnungsdenken betrifft den Staat wie die Kirchen gleichermaßen.

Es ist eine der Stärken der Arbeit, dass sie sich von vornherein nicht auf amtliche Äußerungen der Kirche wie Denkschriften, Gemeinsame Worte etc. beschränkt, sondern die Multiperspektivität protestantischer Zugänge auch mittels unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden zu entwickeln sucht. »Die Analyse erfolgt mittels kulturhistorischer Ansätze mit dem Ziel, eine differenzierte Betrachtung der protestantischen Sozialethik, Schöpfungsethik und Sexualethik auf die demografischen Debatten der Bundesrepublik dazulegen.« (34) So sollen den Fallstudien nachein-ander »diskurszentrierte Netzwerktheorien« (35), »diskurstheoretische Ansätze« (37), »Geschlechtergeschichte« (38) sowie schließlich »Kindheitsgeschichte und -forschung« (40) zugrunde liegen. Die ersten beiden Methoden sind ja als formale Beschreibungen in einem personalen und einem inhaltlichen Moment auseinanderzuhalten, das zweite Methodenpaar jedoch beschreibt inhaltliche Forschungsrichtungen, die sich innerhalb der Kulturwissenschaften ausgebildet haben. H. versucht hier, seine protestantismus-orientierten Fallstudien einem größeren fachwissenschaftlichen Diskurs einzuordnen.

Ihm geht es um eine »historisch-kritische Arbeit, die das Themengeflecht aus Religion, Wissenschaft, Politik, Migration, Geschlecht und Sexualität im Hinblick auf demografische Ordnungsdiskurse analysiert. In der Vielfalt der gewählten Untersuchungsobjekte besteht die Chance, das Wechselspiel aus originären protestantischen Selbstverortungen und gesamtgesellschaftlichen Erwartungshorizonten zu ergründen, um die Vorgeschichte der Bevölkerungsdiskurse in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext sichtbar werden zu lassen.« (46) In der Betonung der Vielfalt der analysierten Meinungen und der Netzwerke über fachwissenschaftliche und institutionell-kirchliche Grenzen hinweg liegt sicherlich eine der großen Stärken der Arbeit. Diese aber könnte sich auch als eine Schwäche erweisen, insofern die spezifische Kontur evangelischer Sozialethik in den analysierten Debatten verloren geht.

In der ersten Fallstudie analysiert H. Kontinuitäten und Brüche in der Bevölkerungswissenschaft vor und nach 1945 (47 ff.). Er fokussiert sich auf den Mediziner Hans Harmsen, der in der Zeit des Nationalsozialismus im Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege des Zentralausschusses für Innere Mission tätig war und später in der Bundesrepublik zu den Begründern von Pro Familia zählte. Als Netzwerker war Harmsen eine wichtige Figur, die nach dem Krieg für die Vermittlung protestantischer Positionen in Richtung Staat, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sorgte. Evangelisch vernetzt war Harmsen durch seine Mitgliedschaft in der Berneuchener Bewegung.

Die zweite Fallstudie (101 ff.) fragt nach staatlicher Familienpolitik im Angesicht von Geburtenrückgang, »Pillenknick« und anderen damals diskutierten Schlagwörtern. Diesen Debatten ordnet H. die sozialethische Frage ein, ob es überhaupt so etwas wie eine ›christliche Familienpolitik‹ gebe oder ob der Glaube sich nicht auf die Auswahl vom Evangelium her plausibler, aber eben nicht theologisch gefüllter Positionen beschränken muss. Er diskutiert aus dieser familienpolitischen Perspektive das Schlagwort vom Wächteramt der Kirche, die gesellschaftliche Entwicklungen zu begleiten und im Bedarfsfall kritisch zu kommentieren oder affirmativ zu verstärken habe. Auch auf dem Gebiet der Familienpolitik vollziehen sich wichtige kulturpolitische Veränderungen: eine Neubewertung der Sexualethik, die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, ein neues Verständnis von Ehe und Familie, eine erheblich veränderte Rolle der Frau. H. präsentiert dazu eine Fülle von Material, und es ist faszinierend zu sehen, wie die evangelischen Akademien, voran Bad Boll, Loccum und Tutzing hier Foren zur Verständigung, Auseinandersetzung und Vernetzung bieten konnten.

Die dritte Fallstudie (219ff.) beleuchtet das Aufkommen der feministischen Theologie und ihre Rezeption in konventionellen evangelischen Frauenverbänden. Eine längere Teilstudie gilt dem konservativen Erlanger Theologen Walter Künneth (230ff.), der sich gegen die entsprechenden feministischen Bestrebungen, gegen eine Neubewertung von Ehe, Familie und Sexualität wehrt.

Die letzte Fallstudie (329 ff.) schließlich fokussiert die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswissenschaft und evangelischer Sozialethik auf die Frage nach Wunschkindern. Auch hier war die Kirche mit erheblichen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen konfrontiert, auf die sie reagieren musste, wenn sie nicht bedeutungslos werden wollte.

In einer Zusammenfassung (405 ff.) schließlich liefert H. wichtige Stichwörter zur weiteren Diskussion. Er konstatiert, im Laufe der Nachkriegsgeschichte habe sich das »demographische Problem« von seiner eng-nationalen Betrachtung verabschiedet. An seine Stelle sei eine globalisierte Betrachtung getreten (407). Genauso nahm man Abschied von Normen der ›Normalität‹ und ersetzte sie durch Prozesse der Individualisierung (412). H. diagnostiziert in allen Fallstudien ein Gegeneinander zwischen einem eher staatstragenden und einem eher staatskritischen Protestantismus (415), wobei die Entwicklung vom ersten in Richtung des zweiten gelaufen sei. Deutlich aber sei, so H. am Ende, die durchgehende Bedeutung des Begriffs der Verantwortung (421).

Am Ende seien zwei Fragen gestellt. 1. H. präsentiert eine faszinierende Fülle von Material, aber das birgt auch die Gefahr, dass sich die Leser in dieser Fülle verlieren und im vielgestaltigen Protestantismus nicht mehr die Konturen dessen erkennen, was seinem theologischen Inhalt nach als protestantisch zu bezeichnen wäre. Ich frage mich, ob eine Reflexion auf genau dieses, was den Protestantismus in den bevölkerungspolitischen Debatten der Nachkriegszeit ausmacht, den Lesern nicht geholfen hätte. 2. H. stellt zu Recht die große Bedeutung des Begriffs Verantwortung heraus. Ich möchte die Frage stellen, ob hier nicht die Verknüpfung des familienpolitischen Diskurses mit der Bearbeitung des Begriffs in der Sozialethik, wo er gerade auf der evangelischen Seite eine große Bedeutung besitzt, noch weiter geholfen hätte.