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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

990-992

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bobbert, Monika [Hg.]

Titel/Untertitel:

Assistierter Suizid und Freiverantwortlichkeit. Wissenschaftliche Erkenntnisse, ethische und rechtliche Debatten, Fragen der Umsetzung.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2022. 376 S. = Ethik und Recht in der Medizin, 45. Kart. EUR 109,00. ISBN 9783848788194.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Dieses Buch ist ein Musterbeispiel für die Verschränkung von Themen und Zeiten. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil über die verfassungsrechtliche Gültigkeit des § 217 StGB einen Begriff von Freiverantwortlichkeit bei der Entscheidung zur Selbsttötung als Maßstab für zulässige Suizidassistenz verwendet, der einerseits eine Debatte über die Triftigkeit des Begriffs auslöste, andererseits Initiativen zu einer neuen gesetzlichen Fassung des Tatbestandes Suizidassistenz entstehen ließ (BVerfG 26.02. 2020 – 2BvR 2347/15). Die wissenschaftliche und die gesellschaftliche Erörterung des Themas benötigen Zeit und Genauigkeit; die unterschiedlichen politischen Absichten zu einer verbindlichen Re- gelung sehen sich mit Entscheidungsdruck konfrontiert, der durch rasche Gesetzgebung beendet werden soll.

In der Mitte dieses Spannungsfeldes steht dieser Sammelband mit 16 Aufsätzen, der auf eine Tagung im Januar 2022 zurückgeht und dabei weitere fünf Beiträge aufgenommen hat. Es ist der Begriff der Freiverantwortlichkeit, dessen Spannbreite das Argumentationsfeld umreißt, auf dem sich Erörterungen aus der Psychiatrie und Psychotherapie, der Rechtswissenschaft, der Theologie und der Philosophie bewegen. Das ist eine erfreuliche Interdisziplinarität, die das BVerfG in seinen Expertenanhörungen vermissen ließ. Die Einleitung der Herausgeberin informiert präzise über die Thesen der Aufsätze und kann daher als Leitfaden für die genauere Lektüre dienen (11–32); ihr Schlussbeitrag (323–373) gibt ein zusammenfassendes und weiterführendes Resümee.

Das Urteil über die begriffliche Genauigkeit von »Freiverantwortlichkeit« und über die Anwendung dieses Kriteriums fällt, aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven betrachtet, durchaus negativ aus (mit einer noch zu besprechenden Ausnahme). Der Begriff ist im Zusammenhang des Suizidwunsches nicht nur neu (Barbara Schneider, 47; Norbert Nedopil, 56), er ist in seiner Unbestimmtheit auch vieldeutig: Er »changiert zwischen philosophischen, psychiatrischen, psychologischen und vermutlich noch weiteren Konnotationen« (Stephan Rixen, 258). Mit aller wünschenswerten Klarheit zeigen die Fachleute aus Psychiatrie und Psychotherapie auf, dass sich die Freiheit von »Freiverantwortlichkeit« nicht empirisch feststellen lässt – weder kann Heteronomie ausgeschlossen werden, noch lässt sich ein Allgemeinbegriff von »Freiverantwortlichkeit« bilden, der etwa »den Kauf eines Frühstückbrötchens« und die Entscheidung zur Selbsttötung unter sich befassen könnte (ebd.).

Indem das BVerfG diesen inkonsistenten Begriff jedoch als Grundlage möglicher Gesetzgebung verwendet, übertragen sich dessen konzeptionelle Schwächen in alle möglichen Versuche einer Umsetzung in operationale Verfahren (Bernd Röhrle, 103–110). Drei Widersprüche stechen dabei besonders hervor. Der erste und grundsätzliche ist der der vom Gericht verlangten Überprüfung der Freiverantwortlichkeit. Welche Instanz man damit auch beauftragen will – Heteronomie, etwa durch die Familiensituation, durch gesellschaftliche Erwartungen, durch nicht psychiatrisch auffällige Stimmungen etc., ist niemals auszuschließen. Vielmehr ist umgekehrt empirisch erkennbar, »dass es keine Autonomie ohne Heteronomie gibt« (André Böhning, 154). Der zweite Widerspruch besteht darin, dass die Überprüfung mit einer »ergebnisoffenen Beratung« verbunden sein soll. Diese lässt sich aber nicht durch ein Urteilsgremium auf der Basis lediglich einer Begegnung innerhalb kurzer Aufschubfrist für die Umsetzung des Willensentschlusses vornehmen. Gerade eine Abklärung von Freiverantwortlichkeit, die in nichts anderem bestehen kann als in einem durchgearbeiteten eigenen Entschluss des suizidwilligen Menschen, verlangt eine intensive und langfristige Begleitung statt einer kurzfristigen Entscheidung mit irreversibler Tatfolge. Der dritte Widerspruch besteht darin, dass aufgrund der Unschärfe des Freiverantwortlichkeits-Kriteriums Rechtssicherheit gerade nicht erreicht wird. Vielmehr »führt die Entscheidung des BVerfG für die Mehrzahl der Suizidfälle zu einer Verschärfung der Rechtslage und damit zu einer Erhöhung des Strafbarkeitsrisikos« (Monika Bobbert, 28; ausführlich: Gerhard Dannecker, 267–300).

Lediglich der Beitrag von Christoph Knauer und Hans Kudlich, den Anwälten der Kläger gegen die damalige Fassung von § 217 StGB, vertritt eine andere, affirmative Auffassung zum Urteil des BVerfG (221–249). Das kann er deshalb tun, weil der Argumentation selbst der vom Gericht verwendete Begriff der Freiverantwortlichkeit zugrunde gelegt wird. Dessen – bis jetzt noch nicht in Gesetzesform überführte – Konsequenz wird freilich darin sichtbar, dass gefordert wird: »Die Autonomie des tatsächlich Sterbewilligen darf nicht vollständig hinter den Lebensschutz zurücktreten.« (246) Was daraus folgt, liegt auf der Hand: »Damit es auch diesen Sterbewilligen möglich bleibt, ihren eigenverantwortlichen Entschluss in einer für sie würdigen und sicheren Art und Weise umzusetzen, sollte im Gesetzgebungsverfahren eine Ausnahme vom Verbot der Tötung auf Verlangen für diese Fälle erwogen werden.« (247)

Die in diesem Band deutliche Kritik an den Grundlagen der Urteilsbildung wird zudem konsequent auf die zur Zeit der Tagung vorliegenden Gesetzesentwürfe ausgedehnt, nämlich den Helling-Plahr-, den Künast- und den Castellucci-Entwurf (vgl. 369; besonders dicht bei Rixen, 258–264, und Bobbert, 338–342). Indem die Entwürfe den entscheidenden Grundbegriff rechtspragmatisch gar nicht in seinen Widersprüchen wahrgenommen haben, führen sie allesamt zu gesetzlich erlaubten Praxisformen, die den Erfahrungen und Handlungsnotwendigkeiten aus der Sicht von Psychiatrie und Beratungstätigkeit nicht gerecht werden. Am 6. Juli 2023 hat keiner der dem Bundestag vorgelegten Entwürfe – seinerzeit eine Kombination des Helling-Plahr-/Künast- und des Castellucci-Entwurfes – eine Mehrheit gefunden. Insofern ist bis jetzt das Urteil des BVerfG, das mit seinem unmittelbar verstandenen Freiheitsbegriff an die Grundlagen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses rührt, an dieser Stelle noch nicht in Gesetzesform übertragen worden. Es ist aber zu vermuten, dass der so populäre wie begründungsarme Freiheitsbegriff des BVerfG sich durchaus an anderen Orten der Gesetzgebung als maßgeblich erweisen und damit der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeschrieben werden wird. Die Debatte um die Freiheit kann und muss daher fortgesetzt werden (im vorliegenden Band etwa vertreten durch die Beiträge von Sigrid Graumann, 181–189, Dietmar Mieth, 191–209, und Jean-Pierre Wils, 303–322).