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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

986-988

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weizsäcker, Viktor von

Titel/Untertitel:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Grundfragen der Naturphilosophie. Aus dem Nachlaß ergänzte Neuedition mit Materialien und Beiträgen. Hg. v. R.-M. E. Jacobi. Unter Mitwirkung v. W. Riedel. Mit einem Geleitwort v. E. U. v. Weizsäcker.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2022. 456 S. m. 15 farb. u. 2 s/w Abb. = Beiträge zur Philosophie. Neue Folge. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783825347376.

Rezensent:

Bernd Janowski

Das Erscheinen dieses Buchs ist eine Überraschung und ein Ereignis. Es enthält den Text einer einstündigen Vorlesung, die Viktor von Weizsäcker (1886–1957) im Wintersemester 1919/20 an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg vor Hörern aller Fakultäten gehalten hat und der in einer ersten Version 1954 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht publiziert wurde. Diese Vorlesung erscheint hier in einer Neuedition, die um diverse Materialien und Beiträge ergänzt wird. Die Editorische Notiz (155–167) sowie der Beitrag von P. Achilles, »… leibhaftiger als Tinte gewöhnlich ist«. Die Erstausgabe 1954. Eine Edition zwischen Redaktion und Interpretation (195–210) informieren detailliert und sachkundig über die verschiedenen Fassungen der Erstausgabe (Vorlesungen I–VII, s. dazu auch die mitabgedruckten Rezensionen von H. Scholz, Th. von Uexküll, E. Wiesenhütter und V. E. von Gelbsattel: 211–220), deren um Anmerkungen erweiterten und in Bd. 2 der Gesammelten Schriften, Frankfurt a. M. 1998, 263–349 (Anmerkungen 489–520) enthaltenen Wiederabdruck sowie die vorliegende ergänzte Neu-edition (Vorlesungen I–VII + VIII–XIV).

Der Gegenstand der Vorlesung ist deshalb so ungewöhnlich, weil ihr Verfasser von Haus aus Mediziner war. Er wurde 1910 mit einer Arbeit über die Blutgeschwindigkeit promoviert, habilitierte sich dann über den Energiestoffwechsel und leitete ab 1920 die neurologische Abteilung an der Krehl’schen Klinik in Heidelberg. Über diese Zeit berichtet er ausführlich in seinem autobiographischen Werk Natur und Geist von 1954 (aufgezeichnet 1944), das in Bd. 1 der Gesammelten Schriften, Frankfurt a. M. 1986, 9–190 wiederabgedruckt wurde (s. dazu auch U. Benzenhöfer, Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker. Leben und Werk im Überblick, Göttingen 2007). Nach seinem Ordinariat für Neurologie in Breslau 1941–1945, wo er seinen innovativen Forschungsschwerpunkt der sog. Gestaltkreis-Forschung ausbaute, übernahm der Vf. am 1. März 1946 den Lehrstuhl für Allgemeine Klinische Medizin mit dem Schwerpunkt für Psychosomatik der Universität Heidelberg, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1952 innehatte.

Der Vf. war aber nicht nur Mediziner, sondern ein philosophisch und theologisch gebildeter und geschulter Wissenschaftler. Das merkt man seiner Vorlesung über die »Grundfragen der Naturphilosophie« auf Schritt und Tritt an. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht sind die im Abschnitt »Kontexte« (169–192) beigegebenen Dokumente, die einen Rückblick auf den »Augenblick der Entstehung« der Vorlesung von 1919/20 (171–173), die Erinnerung des Vf.s an das Gespräch mit F. Rosenzweig (1886–1929) im Januar 1918 (179) und schließlich das als dialogisches Drama gestaltete »Gespräch zwischen Leib und Seele« (183–190, erstmals 1986 veröffentlicht) von F. Rosenzweig enthalten. Dieser Text gehört nicht nur zur Vorgeschichte der naturphilosophischen Vorlesung des Vf.s, sondern stellt auch eine wichtige Wegmarke bei der Her-ausbildung von dessen späterer Medizinischer Anthropologie dar. Soweit knapp zur Edition und Kontextualisierung der Vorlesung. Für alle Einzelheiten muss auf die detaillierten Anmerkungen des Herausgebers R.-M. E. Jacobi verwiesen werden.

Was den Inhalt und die gedankliche Struktur der Vorlesung mit dem Titel »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Grundfragen der Naturphilosophie« angeht, so wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass die Vorlesungen I–VII, die auf den priesterlichen Schöpfungstext von Gen 1,1–2,4a Bezug nehmen und ihn auslegen, den Rahmen für die in den Vorlesungen VIII–XIV entfalteten naturphilosophischen Erörterungen bilden. Während die dortigen Überschriften eng auf den biblischen Text bezogen sind (I. »Am Anfang schuf Gott …«: 23–31; II. »… Himmel und Erde«: 33–42; III. Die Elemente und das Leben: 43–52; IV. Zeichen und Zeiten: 53–64; V. Die Lebewesen: 65–76; VI. Der Mensch: 77–87; VII. »Und siehe da, es war sehr gut«: 89–103), wechseln in den Überschriften der Vorlesungen VIII–XIV der Tenor und die Thematik (VIII. Natur und Geschichte: 105–117; IX. Krankheit und Tod: 119–122, mit großen Lücken im Ms.; X. [Vorlesung fehlt völlig]; XI. Glauben und Wissen: 123–131, mit Lücken im Ms.; XII. Das Nichts und die Grenze der Vernunft: 133–145, mit Lücken im Ms.; XIII. [Vorlesung fehlt völlig]; XIV. Ethos und Wahrheit: 147–153, mit großen Lücken im Ms.).

Wie E. U. von Weizsäcker, der Sohn von C.-F. von Weizsäcker, in seinem Geleitwort zu Recht bemerkt, ist diese Vorlesung »ein titanisches Gebäude. Sie verwendet die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments, also die Genesis, als den Rahmen von hoch philosophischen Erörterungen über die Natur« (11). Das macht die Lektüre sehr interessant, zuweilen aber auch nicht ganz leicht. Eines von zahlreichen Beispielen, das noch nah am biblischen Text bleibt, ist die Aussage über die göttlichen Trennungsakte (mit dem hebräischen Verb bdl hif. »trennen, scheiden«), die sich in Gen 1,1–2,4a mehrfach findet (V.4.6 f.14.18), was der Vf. die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Bemerkung gibt: »Der Begriff des Scheidens weist nicht rückwärts auf Gott, er weist von ihm weg, auf die Welt, erhellt nicht das Wesen des Schöpfers, sondern das der Schöpfung« (29). Und: »Mit trennender Gebärde greift der Schöpfer ins Weltall; er schafft und spaltet und teilt, was vorher Eines war, in ein Zwei: er schied vom Lichte die Finsternis. Und damit entsteht unsere Welt, nämlich eine Welt von Geschiedenheiten, der Gegensätze, der Polarität, der Negationen. Und damit lernen wir etwas, was uns weiterhin unablässig wird beschäftigen müssen: es ist das Urphänomen der Gegensätzlichkeit in der Welt und im besonderen der Natur.« (29 f.) Dieses »Urphänomen der Gegensätzlichkeit« spielt auch für die gegenwärtige Schöpfungstheologie eine wichtige Rolle (s. Chr. Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jh.s [HST 7/2], Gütersloh 1991, 368 f.; B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontext – Themenfelder, Tübingen 2019, 426 ff. u. a.). An anderen Stellen unternimmt der Vf. weite Ausflüge in die Philosophiegeschichte, (Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Schelling u. a.), nicht um sich mit fremden Federn zu schmücken, sondern um deutlich zu machen, was für ihn »Naturphilosophie« bedeutet:

»Die Berechtigung, das erste Kapitel der Genesis als Naturphilosophie zu bezeichnen, erhellt nicht etwa daraus, daß hier Sonne, Mond, Tiere, Pflanzen und dergleichen, also Naturgegenstände, behandelt werden, sondern daraus, daß sie, als ein Ganzes genommen, in Gegensatz gebracht sind zu etwas, was nicht Natur ist, nämlich zu Gott. Natur und Gott werden hier unterschieden, es gibt etwas, was nicht Natur ist und doch zu jedem Einzelnen in ihr in Beziehung steht. Die Natur wird dadurch sogar erklärt, und solche Naturerklärung nennen wir Naturphilosophie.« (26 f.)

Die Vorlesung des Vf.s, die durch die zum Teil umfangreichen Beiträge von R.-M. E. Jacobi (242–322), Chr. Link (323–343), E. Angehrn (345–352) und W. Riedel (353–406) theologisch, philosophisch sowie medizin- und bioethisch kontextualisiert wird, ist nicht nur ein Schlüsseltext der Medizinischen Anthropologie, sondern auch und vor allem ein eminenter Beitrag zu der alten Kontroverse zwischen Glauben und Wissen. Deren Spuren reichen bis in die jüngsten Debatten um das Selbstverständnis des Menschen und dessen Verhältnis zur Natur (J. Habermas, Th. Fuchs, G. Etzelmüller u. a., s. dazu auch die Hinweise von R.-M. E. Jacobi im vorliegenden Band 18.254 f.289 f.292 f. u. ö.). Gegenüber der allfälligen Zweckrationalität, die uns mehr Probleme als Lösungen verschafft hat, besteht die Pointe in der Anerkennung der Geschöpflichkeit des Menschen und im Geschaffensein der Natur, beides Themen von Gen 1,1–2,4a. Dass ein Mediziner und Naturwissenschaftler wie der Vf. dies anhand des biblischen Schöpfungstextes dargelegt hat, sollte Theologie und Kirche zu denken geben.

Der dem Andenken an Cora Penselin (1929–2009), der Tochter des Vf.s, gewidmete Band gibt auf dem Cover den berühmten Kupferstich Melancolia I A. Dürers aus dem Jahr 1514 wieder (s. dazu auch den Bildteil 418 f. und H. Böhme, Albrecht Dürer Melancolia I. Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt a. M. 1989). Das ist ein ikonographischer Hinweis auf die »Ambivalenz von Wissen und Skepsis, von Klarheit und Rätsel« (19, vgl. 300 ff. [R.-M. E. Jacobi]), die auch den Gedankengang der Vorlesung des Vf.s kennzeichnet. Diesen Gedankengang rekonstruiert und in allen seine Facetten ausgeleuchtet zu haben, ist das Verdienst dieses vorzüglichen, von R.-M. E. Jacobi unter Mitwirkung von W. Riedel editierten Bandes.