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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

984-986

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Tetzlaff, Karl

Titel/Untertitel:

Selbstsein und Anerkennung. Theologisch-philosophische Erkundungsgänge im Spannungsfeld von Ich, Wir und Gott.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XV, 433 S. = Dogmatik in der Moderne, 39. Kart. EUR 104,00. ISBN 9783161616952.

Rezensent:

Petr Gallus

Diese ursprünglich als Dissertation in Halle vorgelegte und von der Hallenser Universität folglich ausgezeichnete Studie macht genau das, was der Titel verspricht: Karl Tetzlaff erkundet die möglichen Wege vom Selbstsein zur Anerkennung, von Ich zu Wir, genau in dieser für ihn unumkehrbaren Richtung, und sucht auf diesem Weg zwischen Ich und Wir einen Ort für Gott. Es sind in der Tat »Erkundungsgänge«: auf eine sehr geschickte Weise und auf hohem stilistischem Niveau kombiniert und rekombiniert T. viele Zugänge und Perspektiven. Er moderiert die Diskussion und versucht, einen Bogen von theologischen Fragen über philosophische Perspektiven bis zu ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen zu spannen. Dank dieses eher diagnostischen Zugangs und der rekombinierenden Vorgehensweise, innerhalb derer fast alles »mit jemandem« oder »in Anlehnung an jemanden« gesagt wird, muss man eine Weile suchen, wie die Leitfrage klingen und was die These sein möge: ausgehend vom unhintergehbaren subjektiven Selbstsein, das zugleich »das Göttliche im Menschlichen widerspiegelt« (5), versucht T., die Subjektivität für die Intersubjektivität zu öffnen.

T. geht in drei parallelen Dreischritten vor, wobei jeder nächste Schritt an den vorigen kritisch anknüpft, ihn überbietet und zugleich die vorigen Dreischritte einbezieht. Die Arbeit beginnt mit einer detaillierten Wiedergabe von E. Jüngels Rechtfertigungslehre (29–88), die mit der These steht und fällt, dass der Mensch rein passiv von außen konstituiert ist, sodass die Gott-Mensch Beziehung asymmetrisch ist. Diese These kritisiert und bestreitet T. wiederholt (50.392 u. ö). Das Anerkennungsverhältnis müsse auch für den Gottesbezug geltend gemacht werden, d.h. auch Gott muss das unhintergehbare Selbstsein des Menschen anerkennen, da der Mensch mehr ist, als was ihm von außen – etwa von der Gesellschaft oder auch von Gott – aufgedrängt werden kann (19). Jüngel setzt die Gotteskonstitution des Menschen als erste, T. will an erster Stelle das Subjekt und seine Freiheit a se haben (88). Solle der Mensch die Freiheit von Gott ergreifen, müsse man schon bei ihm als dem ergreifenden Subjekt Freiheit voraussetzen (91). Der Mensch müsse auch Gott gegenüber als selbständiges Anderes gedacht werden (96).

Jüngel macht den Gottesbegriff stark, T. sucht jedoch einen möglichst starken Menschenbegriff. Deshalb wendet er sich zu F. Wagner und dessen Betonung der vorausgehenden menschlichen Freiheit (97–156), die ihn zu der Überzeugung gebracht hat, dass der Gottesgedanke »durch personale und soziale Anerkennungsverhältnisse« zu ersetzen ist (97). Während Jüngel die Vertikale und die extra me-Dimension betont, horizontalisiert und immanentisiert Wagner alles, um alles auf symmetrische Verhältnisse hinlaufen zu lassen, welche die »Realisierung der ganzen christlichen Freiheit« ermöglichen sollen (141 f.). Gerade dies – die ethische Realisierbarkeit, die auch Negativitätserfahrungen in Kauf nehmen könnte, fehle jedoch bei Wagner (154 f.). Anerkennung kann nicht das Absolute ersetzen oder gar selbst sein. Auch die Anerkennung zweier selbständiger Freiheiten braucht ein verbindendes Glied, das die Individualitäten respektiert, aber zugleich einigt (160).

Deshalb wendet sich T. im dritten Schritt zu T. Koch (167–238), der Gott als den zwischen die Menschen kommenden auffasst und so die Außen- mit der Innendimension verbindet: Selbstbestimmung des Menschen heißt, dass sich der Mensch als freies Subjekt von Gott bestimmen lässt (176 f.). Die Spannung von individueller Freiheit und sozialer Anerkennung bleibt kreativ bestehen (200), was T. mit einem breiten Blick in sozialethische Konsequenzen von Kochs Ansatz darlegt (wie auch zuvor bei Jüngel). Auch Koch erfährt jedoch von T. Kritik, da er zu theistisch denke (235). Ein »bleibendes Moment von Transzendenz« würde reichen (236). Die Hauptdimension bleibt bei T. mit Nachdruck die Horizontale zwischen Ich und Wir: »das Subjekt an sich selbst [ist] etwas Göttliches«, deshalb ist Gott in Wir-Bezügen zu suchen (236).

Um seine These auch philosophisch zu erhärten, wendet sich die Arbeit im zweiten Teil der Diskussion zwischen A. Honneth und J. Whitebook zu (239–332). Auch diese Diskussion wird in drei Schritte gegliedert, mit dem vorigen Dreischritt parallelisiert, und in jedem Schritt werden weitere Perspektiven einbezogen (Hobbes, Hegel, J. Butler; Freud, Winnicot; Habermas, Sacks, B. Rössler). Es soll auch soziologisch gezeigt werden, dass das Subjekt, bei Honneth vom Primat des Wir her konstituiert, in seinem Dasein nicht ausschließlich durch Außenrelationen ermöglicht und bestimmt wird (392).

Im letzten Teil wird in einem dritten Dreischritt die Perspektive ins Sozial-ethische erweitert, wo die herausgearbeitete Polarität von individuellem Subjekt zwischen Selbstsein und Anerkennung im Blick auf das Phänomen der Erschöpfung (339–356), die Identitätspolitik (357–376) und Liebe (377–388) in einer »soziologischen Gegenwartsdiagnose« weiter erarbeitet wird (336). Auch hier werden noch weitere, diesmal belletristische Perspektiven herangezogen (W. Genazino, M. Sanyal, S. Rooney). Dies alles wird an die beiden vorigen Dreischritte angeknüpft. Die kunstvoll rekombinierende Diagnostik und Konstellationenarbeit kommt hier zu ihrem Gipfel. Zugleich unterstreicht dies jedoch, dass das diagnostisierende Mosaik gegenüber einer gewünschten klar formulierten Leitfrage und These weitestgehend die Überhand behält.

Wie der Epilog (389–396) letztlich bestätigt, ist die Arbeit ein Votum für die Plausibilität der Subjektivitätstheorie im Rahmen eines nicht explizit geäußerten Ringens um den richtigen Anfangspunkt der theologisch-philosophisch-ethischen Diskussion: außerhalb oder innerhalb des Menschen? Letztlich kommen alle bekannten Thesen der gegenwärtigen Subjektivitätstheorie klar zum Tragen. Die Subjektivität ist unhintergehbar, sich selbst besitzend und göttlich, sie ist eine aus sich selbst stammende Freiheit (391–393). Etwas wie ein gestörter Selbstbezug oder auch korrumpierte Subjektivität – also Hamartiologie im Blick auf das Individuum – steht letztens Endes gar nicht zur Debatte, wie auch die Christologie. Da der Gottesbezug eigentlich Selbstbezug ist, muss auch die Theologie nach innen gewendet werden: sie ist wesentlich »christlich-religiöse Selbstthematisierung im Horizont göttlicher Transzendenz« (394). Ihr Ziel ist Selbstvergewisserung und Bestätigung der eigenen Freiheit (392 f.). Theologische Aussagen und Gegenstände des Glaubens sind dabei Symbole, d. h. religiös ausgedrückte »subjektive Selbstaussagen« (VIII), die also faktisch etwas anderes meinen, als sie zu besagen glauben.

T. weiß jedoch um die mögliche Kritik und erwähnt am Ende zwei wichtige Fragen. Erstens: Braucht eine solche Konzeption überhaupt Gott? Und dann: Handelt es sich eigentlich nicht um eine große incurvatio in seipsum? T. begegnet beiden Fragen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Transzendenz für die Sicherung des »unendliche[n] Wert[s] des Individuums« und mit der Bemühung, die Subjektivität auf die Intersubjektivität hin zu öffnen (393 f.). Eher als bei Koch ist T. jedoch bei Wagner zu verorten: Subjektivität ist absolut, und Gott ist in der Gemeinschaft der menschlichen Subjekte zu suchen (395 f.).

Die anthropologische Grundfrage jedoch, die als erste beantwortet werden müsste, lautet: Ist es wirklich so einfach und selbstverständlich, dass das Ich seine Freiheit aus sich selbst hat und sein Selbstbezug deshalb unhintergehbar jedem Wir vorausgeht? Woher bin ich denn?