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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

981-984

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sass, Hartmut von

Titel/Untertitel:

Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay.

Verlag:

Berlin: Matthes & Seitz 2022. 151 S. = Fröhliche Wissenschaft, 208. Kart. EUR 14,00. ISBN 9783751805414.

Der Titel dieses Buches erinnert an Dorothee Sölle, deren Todestag sich 2023 zum 25. Mal jährt. Sölles 1968 erschienenes Buch »Atheistisch an Gott glauben« wurde gelegentlich fälschlicherweise in die Tod-Gottes-Theologie eingereiht, sie selbst verstand sich anders: Sölle, die die Zuspitzung liebte, wollte »nach-theistisch« von Gott reden und tendierte am Schluss zur Mystik, ohne jedoch ihren politischen Aktivismus aufzugeben. Hartmut von Sass nun will, radikaler als Sölle, a-theistisch glauben. »Atheistisch« fungiert bei ihm als »Adverb, das die ›Tätigkeit‹ des Glaubens an Gott näher zu bestimmen versucht« (5). Ob es wirklich noch um den Glauben »an Gott« geht, wird sich zeigen. Im Titel seines Buches fehlt das »an Gott« jedenfalls – unter Umständen nicht nur, um den Sölle-Titel zu variieren.

Das Büchlein des Vf.s, der als Titularprofessor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie der Universität Zürich auch Inhaber einer Heisenberg-Stelle an der Humboldt-Universität zu Berlin ist, hat drei Teile: I Prolog mit Bild; II Vorbereitung: Zur Architektur des Glaubens; III Konsequenzen: Glaube als eine Weise, das Leben zu führen; eine Art dreiseitiges Nachwort »Ohne Ende: Letzte Dinge« beschließt den Essay. Der Prolog weist auf das Recht unterschiedlicher Perspektiven, die Welt zu betrachten, hin und betont, dass die Glaubensperspektive der Welt nichts nimmt, sondern sie bereichert, »indem diese Welt neu beschrieben, gleichsam ›aus dem Nichts neu geschaffen‹ wird« (21). Gleichzeitig betont er, dass der Glaube sich auf »diese« Welt richte, nicht auf künftige Welten. Damit wird zum zentralen Teil II übergeleitet, der eine Art Philippika gegen jegliche theistische Theologie ist.

Ähnlich wie Sölle meinte, sich gegen alle »herkömmliche« Theologie stellen zu müssen und zu können, opponiert auch der Vf. praktisch gegen alle großen theologischen Entwürfe, indem er den Theismusbegriff sehr weit fasst – so weit, dass Theismus s. E. »vielleicht die zentrale Traditionslinie des Christentums seit seinen Anfängen bis heute in etwas gebrochenen Formen darstellt« (33). Exakt diese Linie aber will der Vf. kappen. Dabei macht er fünf »Zutaten« des Theismus aus: 1. Personalismus (Gott als Person); 2. Supranaturalismus (Gott als transzendente Geist-Person, die jenseits von Raum und Zeit existiere; 3. Perfektibilismus (der allmächtige Gott, der reine Güte ist); 4. Autarkismus (der der Welt frei und souverän gegenüberstehende Gott); 5. Fundamentalismus (Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt, um ihr Dasein und ihre Beschaffenheit zu erklären). Das alles böte heute »keine lebendige Option mehr, die lebensweltlich ohne Illusionen tragen würde und intellektuell verantwortet werden könnte« (36). Nun ja. Derlei hat die Rezensentin schon als Kind in den DDR-Schulen zur Genüge gehört. Und wenn der Vf. dann Bonhoeffers Bonmot anführt: »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht«, hilft das dem Verständnis auch nicht wirklich auf. Bonhoeffers Satz aus »Widerstand und Ergebung« bezieht sich auf Überlegungen in »Akt und Sein«, die Gott als Sein und Werden, statt als statische Größe fassen.

In der weiteren Argumentation bezieht sich der Vf. mit dem 1. Johannesbrief und Wittgenstein (63) auf Feuerbach, demzufolge Gott im strikten Sinn »sein Wesen«, nämlich Liebe, ist – allerdings so, dass die Liebe »ungläubig sei, da sie nichts Göttlicheres als sich selbst kenne« (62). Daran ist einiges richtig. Liebe ist nicht einfach etwas, das Gott neben anderem zukommt. Gott ist Liebe. Aber natürlich glaubt der biblische Verfasser nicht, dass »Gottes Wirklichkeit« nur »sein liebendes Wirken am Menschen« sei (62). Zentral für die These des Vf.s sind die folgenden Stellen: »Nicht an dieses oder jenes glaubt die Glaubende [der Vf. gendert], sondern sie vollzieht ihr Leben auf eine bestimmte Weise, die vom Glauben – und Hoffen, Vertrauen sowie Nächsten- und Fernstenliebe – durchdrungen sein soll.« (64) Und: »An Gott glauben, bedeutet, dass Gott wirklich ist, indem er seine Wirkungen am Menschen entfaltet.« (65) Ja, natürlich. Nur: Wer bestimmt, was als Gottes Wirken gilt? Das tut innerhalb eines weiten Interpretationsrahmens die Glaubensgemeinschaft, die beim Vf. aber nicht vorkommt. Im Alten Testament ist das Grunddatum für Gottes Wirken die Errettung aus der Knechtschaft Ägyptens, im Neuen Testament sind es der Versöhnungstod Jesu und seine Auferstehung. Wo sieht Hartmut von Sass Gottes Wirken? Darüber liest man nichts. Der Glaubensinhalt (fides quae) bleibt beim Vf. leer. Es findet sich nur der allgemeine Verweis auf die Nächstenliebe (wie eben zitiert), der aber sofort durch den Zusatz der Fernstenliebe politisiert und verunklart wird. Der Verzicht auf die Näherbestimmung eines Glaubensinhalts verortet den Vf. außerhalb aller konfessionell durchaus unterschiedlichen Bekenntnisse der Weltchristenheit. Das ist der Preis für eine atheistische Religionsphilosophie, die eigentlich auch die Religion und nicht nur jede näher bestimmte christliche Theologie verabschiedet. Insofern kann die Rezensentin die Hoffnung des Vf.s, manches »häretisch« zu finden, nicht bestätigen (8). Um die Attitüde des Häretikers zu bedienen, hätte der Vf. an einer irgendwie gearteten »christlichen« Inhaltsbestimmung des Glaubens festhalten müssen. Statt dessen will er eine »Theologie des Sonnabends, des Interims zwischen Kreuz und Auferstehung, eine atheistische Dogmatik des Karsamstags« (145) etablieren, in der heilsgeschichtlich nichts entschieden sei. Wie kommt er darauf? Am Karsamstag ist Jesus schlicht tot und die Heillosigkeit der Welt hat triumphiert. Nichts ist hier »unentschieden«.

Der 3. Teil des Essays ändert an diesem Befund nichts, führt aber manch Bedenkenswertes zu einigen klassischen theologischen Topoi wie z. B. dem Thema Sünde aus – freilich unter dem Diktat radikaler Immanentisierung: »Alle hier skizzierten Abschnitte werden von einer These durchzogen, die den Status der Rede von der Schöpfung, vom Bösen und der Erlösung, vom Gebet und seiner Hoffnung sowie dem Glauben an die ›letzten Dinge‹ vollkommen umwandelt: Eine atheistische Theologie sieht in diesen Lehrstücken keine metaphysischen Beschreibungen angeblich unabhän­giger Sachverhalte und Gegenstände ›vor‹, ›neben‹ oder ›nach‹ unserer weltlichen Existenz.« (84 f.) Auch die Verkündigung Jesu Christi ist nur wirklich, indem sie innerweltlich geschieht. Der performative Aspekt aller Evangeliumsverkündigung wird radikalisiert (vgl. 117). Der Schluss dieses dritten Teils weist auf das hin, was generell bei jeder zeitaffinen Verabschiedung von Theologie zu beobachten ist: auf den Ersatz der Theologie durch nicht näher begründete Ethisierung: »Die Hoffnung drängt folglich nicht in eine ruhige Passivität der Tatenlosigkeit, sondern – mit Sören Kierkegaard gesprochen – als ›Sinn für die Möglichkeit des Guten‹ arbeitet sie daran, diesen ›Möglichkeitssinn‹ in den Dienst einer guten, gar besseren Zukunft der Schöpfung zu stellen.« (142)

Wir erinnern uns. Der Vf. möchte, wie oben zitiert, »ohne Illusionen« und »intellektuell verantwortet« glauben – etwas, das er mit seiner Theismusdefinition mehr oder minder allen Theologen vor ihm abspricht. Theologie wurde um des intellektuell verantworteten Glaubens willen erfunden, letztlich schon von Paulus. Der Vf. ist nicht der erste, der sich darum bemüht. Was jedoch als »intellektuell verantwortlich« gilt, wird immer strittig bleiben. Früher gab sich der Kommunismus als die Krone der Wissenschaftlichkeit aus; es war ein Witz. Heute gilt die Außerkraftsetzung biologischer Gegebenheiten als wissenschaftlich und intellektuell verantwortet. Die Geschichte der »Vernunft« ist generell voller Irrungen – und oft hilft eben die bloße Vernunft ohne (inhaltlich bestimmten) Glauben nicht weiter (1Kor 1,18–31).

Neben dem Rekurrieren auf intellektuelle Verantwortung hält der Vf. llusionslosigkeit für eine Stärke. Gut, diese Attitüde nimmt auch die Rezensentin in gewisser Weise für sich in Anspruch. Ihre Illusionslosigkeit bezieht sich aber eher darauf, dass die Zeiten gerade ganz und gar nicht nach einer »besseren Zukunft der Schöpfung« aussehen. Wir werden demnächst statt Illusionslosigkeit eher Trost brauchen. Für Milliarden Menschen ist das schon jetzt so. Trost im guten Sinn hatte nie etwas mit Vertröstung zu tun. Natürlich, auch diese Fehldeutung gab es im Christentum, aber bestimmend war sie auf Dauer nie. »Religiöse Vertröstung« ist ein antireligiöser Kampfbegriff. Trost im rechten christlichen Sinn hindert nicht am Einsatz für die Welt, sondern ermutigt dazu – allerdings eben im Wissen darum, dass jeder persönliche Einsatz in Gottes Hand steht. Gelingt er, ist es gut, gelingt er nicht, bleibt die Hoffnung auf den neuen Versuch und ganz zuletzt darauf, dass Gott über den Tod und die weltliche Existenz hinaus alles Misslingen, alle Schuld und alles unverschuldete Leid durch seine Liebe in Ewigkeit verwandeln und zusammen mit dem Gelungenen bewahren wird. Ist solcher Glaube illusionär oder kitschig? Egal, auf ihm beruht das Christentum. Fällt er, fällt das Christentum – und spätestens in der dritten Generation auch jede auf ihn gegründete säkularisierte Ethik samt Menschenrechten und -würde. Das möchte der Vf. natürlich nicht. Doch was würde er, wäre er Pfarrer, einer Gemeinde sagen? Wie würde er Glaube, Liebe, Hoffnung predigen wollen, ohne darüber zu sprechen, an wen oder was zu glauben, wie oder wen zu lieben, was oder worauf zu hoffen ist? Gewiss, Gott wirkt. Aber er wirkt immer etwas Bestimmtes – oder er wirkt nicht. Das Bestimmte zu bezeichnen und sich damit angreifbar zu machen, mag heutzutage unpopulär sein, verzichtbar ist es nicht.

Nachtrag: Die Rezensentin ist der Ansicht, dass Gott die Welt erschaffen hat, damit es Lebendiges gibt, das glaubt, liebt und hofft, obwohl oder besser weil es der Sünde (verstanden als Unglauben) nicht entkommen kann. Und sie sieht diesen Glauben, den Gottes Geist vergegenwärtigt, durch Jesus Christus bestimmt. Zudem glaubt sie, dass Gott – vielleicht nicht die Erde auf Dauer –, aber seine Welt als Universum aus diesem Grunde erhalten wird. Dem Vf. zufolge gilt sie damit als Fundamentalistin (man vgl. oben: Fundamentalist ist, wer »Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt« annimmt, »um ihr Dasein und ihre Beschaffenheit zu erklären«). Die anderen Merkmale der Theismusdefinition treffen wohl ebenfalls zu, da sie hofft, dass Gott unabhängig von seinem Wirken in der Welt wirklich ist. Und zwar als Person. Ein nicht personal gedachter Glaube bleibt notwendig selbstbezogen. Es ist nicht zu erkennen, wie man etwas noch Glauben nennen können soll, »reinigt« man es von den oben aufgeführten Theismen. Auch wenn hier Vorsicht geboten ist, kann doch keine menschliche Rede von Gott völlig auf anthropomorphe oder mythologische Elemente verzichten. Insofern bleibt Gott »Geheimnis«, das ich nur glauben kann. Und nur an solchem Glauben können sich Zweifel und Anfechtung entzünden, die zum Glauben gehören. Zu einem Glauben, der lebt, als gäbe es Gott, und nicht etwa so, als gäbe es Gott nicht.