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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

951-953

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Langstaff, Beth, Stuckenbruck, Loren, and Michael Tilly [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Lord’s Prayer.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. XI, 321 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 490. Lw. EUR 139,00. ISBN 9783161614408.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Zum Vaterunser sind in den letzten Jahren einige Arbeiten und Tagungsbände erschienen, in denen kaum eine Wendung nicht kontrovers diskutiert wurde (M. Philonenko, E. Lohse, H. Klein u. a., F. Wilk u. a.). Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines internationalen Symposiums in Tübingen (2018) zum Vaterunser (Mt; Lk; Did) mit seinen Bezügen in der jüdischen Tradition, der neutestamentlichen Theologie und der Rezeption im frühen Christentum.

Im ersten Teil zum jüdischen Hintergrund ordnet R. A. Werline (11–27) das Vaterunser auf dem Hintergrund des Frömmigkeitsideals zur Zeit des zweiten Tempels ein (vor allem Dan; 1Hen, aber auch 1Kön 8; Sir; Qumran), das eng mit der gottesdienstlichen Gebetspraxis verbunden ist und die Sprache und Themen mit der Hebräischen Bibel und anderen jüdischen Texten teilt: »there is nothing distinctively Christian about this prayer« (25). Differenzierter urteilt C. Werman (29–50) zur Vergebungsbitte, dass sich in Qumrantexten (1Q22; 4Q159; 11Q13) ein Wandel vom Erlassen finanzieller Schulden zur religiösen Vergebung von Sünden abzeichnet, Matthäus also die ursprünglichere Formulierung bewahrt hat im Unterschied zu Lukas, der die für Griechen unverständliche religiöse Konnotation der Schuld durch die Rede von den Sünden ersetzt. Im Vergleich mit apotropäischen Gebeten (Qumran; Jub) wird das Übel in den eschatologischen Du-Bitten weder personifiziert noch auf Übertretungen reduziert, sondern alle Hoffnung auf die Überwindung der Sünde durch die Vergebung gesetzt. Schließlich weisen die ersten drei Bitten ähnlich wie das Kaddisch Gemeinsamkeiten mit der Weisheitsliteratur auf in der Spannung, dass Gottes Wille im Himmel geschieht, auf Erden aber das Böse herrscht. Dass Gottes Weisheit auch auf Erden wohnt, sieht Kohelet skeptisch, ist für Jesus Sirach allein den Juden in Tora und Tempelkult offenbart (vgl. 4QInstruction) und wird in apokalyptischen Texten wie den Bilderreden (1Hen) mit der Erwartung einer messianischen Gestalt verbunden (vgl. Dan 7; Qumran; ferner PsSal). Davon unterscheidet sich das Vaterunser dadurch, dass es nur die Bitte um die Verwirklichung von Gottes Willen auf Erden enthält, dafür aber Jesus als Lehrer dieses Gebets selbst der Retter ist, der die künftige Erlösung bringen wird. Angesichts der Forschungsgeschichte zur Vateranrede seit Joachim Jeremias weist H. Lichtenberger (51–68) anhand der jüdischen Parallelen nach, dass »Vater« kein Kinderlallwort, sondern die »respektvolle Anrede auch eines Erwachsenen« ist (59), die stets die fürsorgende Rolle in den Mittelpunkt stellt. J. H. Newman (69–90) untersucht als frühjüdische Beispiele die Erzählungen im Buch Tobit mit sechs Gebetstexten, die Anweisungen zum Gebet bei Jesus Sirach mit Lob der Weisheit (Sir 24), Schöpferpreis (42,15–43,33) und Dankgebet (51) sowie die Rolle des Maskil in Qumran als geistlicher Lehrer esoterischer Geheimnisse und Leiter der Liturgie (1QS; 1QH). B. Wold (91–112) entdeckt erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Matthäus und 4QInstruction im Blick auf die religiöse Bedeutung ökonomischer Begriffe beim Motiv des Erbens, den Armen im Geist und dem Erlassen der Schulden als Ausdruck für die Sündenvergebung.

Im zweiten Teil zum Neuen Testament unternimmt U. Mell (115–142) den bemerkenswerten Versuch, die Bergpredigt als thematisch geordnete weisheitliche Logien-Sammlung und das Vaterunser als deren theologisches Zentrum darzustellen (140). Nach den zwölf Tugenden zur Lebensführung in den Seligpreisungen (5,3–16), sechs mittels Tora-Interpretationen gewonnenen Tugenden in den Antithesen (5,17–48) und den drei Tugenden wahrer Frömmigkeit (6,1–18) folgt ein sechsteiliger Abschnitt (6,19–34) zum Umgang mit den für jeden Menschen notwendigen ›Lebensmitteln‹ (131) und wird auch im letzten Teil (7,1–27) zum Zusammenleben der Jünger »der konzentrische Aufbau der Bergrede mit wieder zwölf Sentenzen abgeschlossen« (132). Daher ist die Bergpredigt mit ihrer Forderung einer »besseren Gerechtigkeit« (5,20) nach dem Gliederungsprinzip der Dreizahl als christliche Tugendlehre konzipiert, in der das Vaterunser als reines Bittgebet die theologische Mitte bildet: »Geht es der Bergrede um ein ethisches Konzept für das menschliche Tun, so klärt das Vaterunser im Gegensatz dazu, was allein und ausschließlich Aufgabe des göttlichen Tuns ist« (137). Das von Jesus geforderte Handeln hat »kein soziales oder humanes und erst recht nicht ein politisches Ziel, sondern strebt eine Gerechtigkeit an, die vor dem richtenden Gott gelten soll, dessen Gottesherrschaft sehnsüchtig erwartet wird« (137). Dieser Vorschlag klingt bestechend, doch drängt sich die Frage auf, ob das Gliederungsprinzip vor allem in der zweiten Hälfte nicht doch etwas künstlich wirkt und ob der Begriff der Tugendlehre das Anliegen Jesu trifft. G. J. Steyn (143–159) analysiert die Rede von Himmel und Erde (so nur bei Mt), die pluralischen und singularischen Formulierungen, die kosmologischen Bezüge und eschatologischen Perspektiven im christlichen und frühjüdischen Sprachgebrauch. Demnach ist Gott als Vater der Herrscher des Weltalls, der in einer Vielzahl von Himmeln allgegenwärtig ist und seinen Willen wie gegenwärtig im Himmel künftig bei der Parusie auch auf Erden vollenden wird. Angesichts der von Papst Franziskus angestoßenen Diskussion zur Übersetzung der Versuchungsbitte untersucht W. Eisele (161–172) die Gebetsunterweisung Jesu sowie die Versuchungen Jesu und der Jünger. Eine solche ist »immer die Versuchung des Glaubens, d. h. des grundlegenden Vertrauens in die väterliche Fürsorge Gottes«, die »von Gott selbst erschüttert (wird), indem er Situationen herbeiführt, die seinen eigenen Verheißungen zuwiderlaufen. […] Gegen diese Versuchung des Glaubens hilft nur das Gebet, das als solches bereits die Versuchung bannt, aber auch ausdrücklich um die Bewahrung vor und in der Versuchung bittet« (171). K. B. Larsen (173–188) nimmt die literarische Absenz des Vaterunsers im Johannesevangelium zum Anlass, nach indirekten Bezügen zu fragen. Überzeugend zeigt er, dass Johannes das Vaterunser in seiner längeren Version als liturgischen Text gekannt haben muss, aber nur in Joh 12,28 und Kapitel 17 darauf anspielt, indem er im Gebet Jesu als rewritten prayer alle sechs Vaterunserbitten im Licht der johanneischen Theologie einer christologischen Reinterpretation unterzieht und darin eine Summe des ganzen Evangeliums bietet. Da bei der Wirksamkeit des Bittgebets vielfach nach der Rolle des Glaubens gefragt wird, beschreibt D. R. Lindsay (189–209) ausgehend von Lk 18 die Beziehung zwischen Glauben und Gebet. Der Glaube, der bittet, sucht und anklopft (11,9), bis Gott ihm Recht verschafft (18,7 f.), ist in der Bibel vielfach mit Umkehr, Vergebung und Heilung verbunden. Von der göttlichen Vergebung handeln nicht nur Jesu Lieblingspsalm (Ps 103) und die beiden Gleichnisse in Lk 18,1–14, sondern auch die ersten drei Vaterunserbitten (Mt 6,9 f.), die Vergebungsbitte (6,12) und der anschließende Kommentar (6,14f). Deshalb fokussiert das Vaterunser nicht wie die meisten Bittgebete, was wir wollen, sondern was wir brauchen, nämlich zuerst Gottes Reich und seine Gerechtigkeit (Mt 6,33 f.). K. H. Ostmeyer (211–227) fragt nach den Rezipierenden des Vaterunsers, das didaktisch auf Allgemeingültigkeit, Wiederholung und Kontinuität angelegt ist, um »einen Prozess der Selbstbildung in Gang zu setzen« (225).

Im dritten Teil zur Rezeptionsgeschichte geht T. Nicklas (231–251) den Spuren des Vaterunsers im 2. Jh. nach (Did; Polyk; 1Clem; Apokryphen; Markion), R. Heine (253–267) bei Origenes als Beispiel, wie wir beten sollen, wie sich’s gebührt (Röm 8,26), sowie K. Nikolakopoulos (269–282) in der liturgischen Verwendung im orthodoxen Kultus.

Fazit: Der Band bietet keine fortlaufende Auslegung des Vaterunsers, ist aber verdienstvoll, hilfreich und weiterführend, da er von den drei Fassungen (Mt; Lk; Did) ausgeht, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven frühjüdische und christliche Kontexte breit auslotet und damit nicht nur zu einem vertieften Verständnis des Herrengebets beiträgt, sondern auch die gemeinsame liturgische Verwendung, das individuelle Gebet, die persönliche Frömmigkeit und tägliche Praxis in den Blick nimmt.