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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

949-951

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bormann, Lukas, u. Christof Landmesser [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Rudolf Bultmann und die neutestamentliche Wissenschaft der Gegenwart.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. VIII, 294 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 88. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161617324.

Rezensent:

.Werner Zager

Der von Lukas Bormann und Christof Landmesser herausgegebene Sammelband enthält zum einen Impulsvorträge über die von Rudolf Bultmann angestoßene Entmythologisierung des Neuen Testaments in historischer und gegenwärtiger Perspektive sowie Seminarvorträge über die Bedeutung der Exegese Bultmanns für eine heutige Theologie des Neuen Testaments, die auf dem 74. General Meeting der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) 2019 in Marburg gehalten worden sind. Für die Publikation wurden die Marburger Vorträge um weitere Beiträge ergänzt. Daraus ergibt sich die Gliederung des Buches in zwei Hauptteile, denen eine ausführliche Einleitung der beiden Herausgeber vorangestellt ist (1–12).

Zu Beginn des mit »Entmythologisierung und existentiale Interpretation« überschriebenen ersten Hauptteils (13–110) informieren Lukas Bormann und Hannah Kreß über Bultmanns Verhältnis zur internationalen neutestamentlichen Wissenschaft. Obwohl Bultmann der ökumenischen Bewegung distanziert gegenüberstand und seine durch die Existenzphilosophie Kierkegaards und Heideggers bestimmte Theologie auf Vorbehalte stieß, genoss er als historisch-kritischer Exeget eine hohe wissenschaftliche Reputation. Dies zeigt sich in seiner Einbindung in die Arbeit am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament und in seiner Rolle als »wichtigster Vertreter der deutschsprachigen Exegese« innerhalb der SNTS (35). In seiner Analyse von erhaltenen Ton-Dokumenten Bultmanns aus den Jahren 1958 bis 1964 erklärt Bormann die Unsicherheiten in Bultmanns Stimme, wenn dieser auf Heideggers Philosophie und den Menschen Martin Heidegger angesprochen wird, damit, dass Bultmanns Verhältnis zu Werk und Leben Heideggers, speziell zu dessen Verflechtung in den Nationalsozialismus, zeitlebens nicht eindeutig geklärt war. Hatte Bultmann doch »1941 in seinem Entmythologisierungsprogramm das Spezifikum des christlichen Glaubens angesichts der nationalsozialistischen Weltanschauung herausgestellt und dabei auf einen Philosophen zurückgegriffen […], dessen ethisches Versagen angesichts des Nationalsozialismus unübersehbar geworden war« (56).

Für David W. Congdon bildet Bultmanns Entmythologisierungsprogramm eine dialektische Einheit von Kerygma und Geschichte (106). Während es Bultmann gelingt, historisch-kritische Exegese für die Übersetzung der neutestamentlichen Texte in heutiger Verantwortung theologisch fruchtbar zu machen, wird die neuere nordamerikanische Theologie dieser Aufgabe nach dem Urteil Congdons nicht gerecht. Dies zeigen seine Untersuchungen der Hauptrichtungen der Forschung: die »Paul-within-Judaism«-Interpretation, der heilsgeschichtliche Entwurf von N. T. Wright, die apokalyptische Paulusinterpretation, die postliberale theologische Schriftinterpretation und die Dekerygmatisierung des Neuen Testaments.

Den mit »Synoptiker – Paulus – Johannes« betitelten zweiten Hauptteil (111–258) eröffnet Andreas Lindemann mit einem Beitrag, der der Frage gilt, in welchem Verhältnis Bultmanns Buch Die Geschichte der synoptischen Tradition zu seiner hermeneutischen Theologie steht. Lindemann zufolge sind die in diesem Buch enthaltenen Textanalysen ein »Zeugnis für den Vollzug der existentialen Interpretation bei der Auslegung der synoptischen Evangelien« (138). Gegenüber einer allein am kanonischen Endtext orientierten Exegese hält Lindemann im Sinne Bultmanns zu Recht fest: »Die uns vorliegenden Evangelien verdanken sich einem geschichtlichen Prozess, den zu erkennen das Verstehen erleichtert und vielleicht sogar überhaupt erst möglich macht.« (138 f.)

Die Bedeutung der Entmythologisierung für Bultmanns Exegese der Synoptiker erkennt Paul-Gerhard Klumbies darin, dass sie ein glaubendes Verstehen des Redens von Gott im Neuen Testament ermöglichen soll – nicht zuletzt innerhalb der synoptischen Evangelien, deren vorausgegangener Überlieferungsprozess aus dem Osterglauben resultiert. Mit Klumbies stimmt Martin Bauspieß überein, dass Bultmanns Bevorzugung der Wortüberlieferung in seiner formgeschichtlichen Analyse der synoptischen Tradition eine »Unterschätzung der im Neuen Testament narrativ entwickelten Theologie und Christologie bedeutet«, worin Bultmann sich als »Erbe der Liberalen Theologie« (171) erweise. Anders als Bultmann hält Bauspieß die Wunder Jesu als vergangene Ereignisse nicht für »erledigt«, da die Wundergeschichten die Leserinnen und Leser »in der Person Jesu die heilsame Gegenwart Gottes erkennen« lassen (185 f.).

Thomas Söding begreift Bultmanns Paulusbild als eine »Provokation«, weil Bultmann dem geschichtlichen Jesus für die Theologie des Apostels keine Bedeutung zumisst. Dagegen behauptet Söding, »dass Paulus Jesus als Person nicht aus-, sondern einblendet« – und zwar von der Präexistenz bis zur Parusie (198). Obwohl hier die Kritik an Bultmanns Position nicht ganz überzeugen kann, ist Söding zuzustimmen, wenn er Bultmanns Hermeneutik für wegweisend hält, insofern sie »jede objektivierende Christologie als obsolet erweist« (203).

Eckart David Schmidt vermittelt einen detaillierten Einblick in die Rezeption von Bultmanns Paulusauslegung in der gegenwärtigen Forschung, wobei er ausgewählte englisch- und deutschsprachige Literatur berücksichtigt. Als Ergebnis hält Schmidt fest, dass die New Perspective on Paul eine nachhaltige Wirkung ausgelöst hat: »Insbesondere in der englischsprachigen Literatur sind – abgesehen von einigen exegesegeschichtlichen Reminiszenzen – fast nur die beiden Zentralaspekte aus Bultmanns Pauluslektüre in Erinnerung geblieben, gegen die sich die New Perspective am deutlichsten gewehrt hat: der Anthropozentrismus und die Oppositionsstellung des paulinischen Denkens zum frühjüdischen Denken.« (222) Unabhängig davon, ob man Bultmanns Positionen teilt oder nicht, sollten folgende Themen, die sich aus Bultmanns Pauluslektüre ergeben, weiter diskutiert werden: die Rolle des historischen Jesus für Paulus, das »Indikativ-Imperativ«-Schema, das paulinische Predigtverständnis und die Frage einer kohärenten paulinischen Theologie. Die größte Herausforderung Bultmanns für die heutige Paulusexegese besteht Schmidt zufolge in der Beantwortung der Frage: Wie kann ein auf Paulus zurückgehender Glaubensbegriff entwickelt werden, »der theologisch und anthropologisch das leistet, was er bei Bultmann leistet, historisch informiert, textlich umfassend und kerygmatisch signifikant ist«? (235) Analog wären auch die paulinische Ethik sowie die Funktion von Kreuz und Auferstehung Jesu bei Paulus zu bedenken. Im Unterschied zu Schmidt bin ich mir aber nicht so sicher, ob »die gegenwärtige Paulusforschung den ›historischen‹ Paulus näher erfasst hat als Bultmann« (229). Auch dürfte es problematisch sein, allzu rasch Bultmanns Verständnis von Gnosis, Hellenismus und Judentum als überholt abzutun (so ebd.).

Stephen Hultgren setzt sich mit Bultmanns Johannes-Interpretation auseinander, wobei er das Verhältnis von Ereignis, Wort und Glaube bei Johannes näher bestimmt. Anders als Bultmann, für den sich der wahre Glaube nicht auf vergangene Wunder und Ereignisse gründet, sondern sich an Jesu Worten orientiert, an dem Wort, das in der Gegenwart verkündigt wird (241), hebt Hultgren hervor, dass Johannes aus einer nachösterlichen Perspektive aufgrund der Inspiration des Parakleten die Bedeutung von Jesu Taten aufdeckt.

Der vorliegende Band darf als Einladung an die neutestamentliche Wissenschaft der Gegenwart verstanden werden, das Gespräch erneut mit der Exegese und hermeneutischen Theologie Bultmanns aufzunehmen, deren Anliegen nichts an Aktualität verloren haben.