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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

937-940

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Despotis, Athanasios, and James B. Wallace [Eds.]

Titel/Untertitel:

Greek and Byzantine Philosophical Exegesis.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2022. VI, 283 S. m. 1 Abb. u. 1 Tab. = Eastern Church Identities, 5. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783506703484.

Rezensent:

Franz Xaver Risch

Der Sammelband enthält sieben Beiträge, in denen beispielartig und eingehend die Selbsterschließung des christlichen Bewusstseins mithilfe außerbliblischer Vorstellungen untersucht wird, wobei philosophischer und religiöser Geist nicht so sehr methodisch als nach literarischen Traditionen unterschieden werden, inhaltlich aber im Bewusstsein zumindest der behandelten Exegeten ineinander übergehen. Entscheidende Streitfragen zwischen Kirche und Synagoge, frühchristlichen Autoren und polytheistischen Kritikern, christlicher Orthodoxie und Heterodoxie entspringen hauptsächlich, das ist Überzeugung der Herausgeber, einer philosophischen Interpretation der Bibel (16). Demnach bildet die heilige Schrift die feste Basis und Einheit, die durch sogenannte Philosophie zu einem differenzierten Universum des Geistes entfaltet wird. Man könnte auch sagen: Die Bibel ist der Boden, der erst durch Philosophie fruchtbar wird. Denn die philosophische Exegese, die in Allegorese und spiritueller Interpretation erfolgt, zielt auf die Union mit dem Logos und leitet damit zur Angleichung an Gott (17). Es wäre interessant, vielleicht sogar aufregend, diese kulturhistorische Einstellung über ihre historische Richtigkeit hinaus mit der Wahrheitsfrage zu konfrontieren. Das war in diesem Buch nicht zu leisten. Der Leser sollte sich deshalb im Klaren darüber sein, dass durchweg nicht von erkennender Philosophie, sondern von philosophischen Vorstellungen die Rede ist, die auf eine ihnen fremde Tradition angewandt werden, und es kann nicht ausbleiben, dass willkürlichen, um nicht zu sagen pseudo-philosophischen Phantasien ein gleicher Wert zugestanden wird, da jedwede Beurteilung der Theorie ausbleibt.

Elemente der Philosophie können auch schon in den biblischen Texten selbst eingebaut sein. Das versucht Athanasios Despotis in seinem Beitrag über »Jesus als neuer Sokrates« zu zeigen, in dem er in den Kapiteln 1 bis 12 des Johannesevangeliums die Jesusfigur unter dem Einfluss des hellenistischen Sokrates-Bildes gezeichnet findet, näherhin des stoischen und kynischen Ideals vom moralisch überlegenen und befreienden Philosophen sowie des mittelplatonischen Ideals von der Umkehr zum Göttlichen, weniger des akademischen Ideals von der theoretischen Skepsis und Aporetik. Der gewichtige Unterschied von Sokrates und Jesus besteht natürlich darin, dass Jesus der Logos ist und platonisch-philonische Attribute wie »wahres Licht« nicht ideal entferntes, sondern real anwesendes Ziel beschreiben. Obwohl Despotis klar ist, dass damit der johanneische Jesus anders konzipiert ist als der hellenistisch-philonische Sokrates, will er in ihm einen »neuen Sokrates« sehen. Das dürfte nicht die ursprüngliche Absicht des Evangelisten sein. Aber immerhin lässt sich die johanneische »philhellenische Tendenz« (48) so darstellen, dass den Heiden ein Vorzug gegenüber den Juden in der Wahrheitssuche eingeräumt wird, eine schon fast eusebische Deutung der Heiden als der berufenen Völker.

Ilaria Ramelli stellt sich von neuem der Frage nach einem Übertritt des heidnisch geborenen Origenes zum Christentum und behandelt dabei, unvermeidlich, die Frage nach einem doppelten Origenes. Ihre manchmal ein wenig redundanten Ausführungen sind mit vielen erfrischenden Vorstellungen durchsetzt und berücksichtigen wenig erörterte Informationen, zum Beispiel die methodische Vorbereitung der tabellarisch-synoptischen Arbeiten zur Bibel von Origenes und Eusebius durch Ammonius (73.127). Insgesamt verstärken sie eine deutliche Tendenz der Forschung, die man so zusammenfassen könnte: Ja, es gibt einen neuplatonischen und einen christlichen Origenes, aber es handelt sich um dieselbe Person, die für pagane Philosophen und Christen gleichermaßen wichtig war, so dass wir es heute mit konkurrierenden Nachrichten (competing sources) über Origenes zu tun haben. Auf Argumente für zwei Personen namens Origenes, wie sie zuletzt noch in dem von B. Bäbler und H.-G. Nesselrath herausgegebenen Origenes-Band (Origenes der Christ und Origenes der Platoniker, Tübingen 2018) vorgetragen wurden, geht sie nicht ein. Einen Übertritt des »Horusgeborenen« zum Christentum hält auch sie nicht für evident, wohl aber für gut möglich. Wie es sich damit auch verhalten mag: Unbestreitbar ist, dass für Origenes die Bekehrung ein religiöses und exegetisches Leitmotiv ist.

In einem zweiten Beitrag erstellt Ramelli aus vielfach diskutiertem, aber von ihr neu gelesenem Material ein reichlich nuanciertes Porträt des Allegorikers Origenes. Philosophische Bibelexegese ist nur durch Allegorese möglich. Notwendigkeit und Legitimation dafür findet Origenes in der Überzeugung, dass derselbe Logos die griechischen Philosophen, die Bibel und den Exegeten inspiriert und in Jesus inkarniert ist (so dass dessen Vita eine Beschreibung des Logos ist). Es könnte aber doch die Frage angeschlossen werden, ob Durchführung und Verteidigung der Allegorese bei Origenes mit einem kritischen Allegorese-Begriff, wie ihn Diodor von Tarsus unter anderem im Kommentar zu Ps 118 dargestellt hat, vereinbar ist. Demnach löst sich in der paganen Allegorese die historische, wörtliche Basis auf, während sie in der christlichen beibehalten wird. Obwohl Origenes philologisch am Wortsinn interessiert war, ist keineswegs ausgemacht, ob nicht die bei ihm aus der Einheit des Logos folgende Einheitlichkeit des hebräischen und griechischen Geistes den Vorgaben widerstreitet, die Paulus mit der Allegorese des himmlischen Jerusalem gemacht hat.

Georgiana Huian untersucht die Reaktion von Gregor von Nazianz und Augustinus auf die berühmte Unterscheidung der Erkenntnis im Spiegel und der von Gesicht zu Gesicht in I Kor 13,12 und stellt einen Übergang von einem wechselseitigen Ausschluss zu einer wechselseitigen Implikation beider »Erkenntnisarten« (modes of knowledge) fest (161–162). Obzwar sie nicht darauf eingeht, wie Erkenntnis als Wissensakt modifiziert werden kann, entdeckt sie in einer feinsinnigen Analyse allerlei Bestimmungen der Mittelbarkeit von Spiegelung und direktem Gesicht bis hin zu einem dynamischen Prozess der Transformation unvollständiger Erkenntnis zur Vollendung vor dem Gesicht Gottes. Den Analysen von Huian zufolge rückte die Überwindung des Symbols nicht in den Blick. Man möchte aber doch gerne wissen, welche Folgen die Erlangung der Erkenntnis von Gesicht zu Gesicht für die Sakramentalität und die kirchliche Gesellschaft hat. Es scheint ja, dass ein unsymbolisch erkannter Gott ein privater Gott geworden ist. Der Ausschluss der Kirche von der Gottesbegegnung face to face erweist die angeblich vollständige Erkenntnis als Täuschung. Sollte Gott tatsächlich von Gesicht zu Gesicht erkannt werden, kann es nicht mitgeteilt werden. Die angebliche Vollkommenheit wird zur persönlichen Mystik. Darin zeigt sich der massive Defekt einer philosophischen Exegese: Der philosophische Intellekt wird mithilfe paulinischer Verheißungen zur Hybris des Erkennens, und die eigentlichen Intentionen der gesellschaftlichen Religion gehen verloren, um von erkenntnistheoretischen Aporien gar nicht erst zu reden.

Die philosophische Suche nach der direkten Gotteserkenntnis bedeutet letztlich eine Auflösung von vermittelnden Strukturen. Dagegen bespricht Taylor Ross, angelehnt an Thesen von James A. Coulter (»The Literary Microcosm«, Leiden 1976), einen strukturbildenden Umgang mit Texten. Der Exeget, namentlich Iamblich, entnimmt hermeneutische Maximen, zum Beispiel die Korrespondenz von Ganzem und Teil, der Metaphysik und sieht im Erklärungsmaterial ein Symbol. Exegese ist letztlich Theurgie (202). Die Analysen von Ross rufen Vorstellungen hervor, die sich gut in die spätantike Idee von einer Kultur totaler Religion einfügen: Autoren sind im Grunde Demiurgen, die eine symbolische Sphäre erschaffen, damit die Exegeten über den Wortsinn hinaus in höhere Sphären führen (206). Es gilt, in die Körper des Textes abzusteigen, um spirituell aufzusteigen (207). Die Exegese entdeckt somit den Text als ein Sakrament mit Heilswirkung. Ross kleidet seine weit ausholende Betrachtung von der Einheitlichkeit des Skopos einer Schrift bis zur Ausgestaltung in the »Iamblicho-Procline universe« (199) in Parallelen zu patristischen Autoren. Zu Beginn wird auf die ähnliche Skopos-Auffassung bei Gregor von Nyssa verwiesen, am Ende wird Origenes zum theurgischen Vorläufer von Iamblichs Auffassung vom Text als metaphysischem Symbol gemacht. Zu diesem interessanten Thema sind weitere Ausarbeitungen wünschenswert.

Robert Edwards klärt die Frage nach der stoischen Eigenart der Lehre von Chrysostomus, indem er die späten Schriften Quod nemo laeditur nisi a se ipso und De providentia dei als einander ergänzende Teile eines einheitlichen Konzeptes liest. Die christliche Providentia-Lehre unterscheidet sich von der stoischen wie gesetzliche, ungeschichtliche Ordnung von freiem Wollen. Der Weise handelt in Einklang mit der immanenten göttlichen Ordnung, während sich in christlicher Vorstellung eine Interaktion des Menschen mit dem individuell und geschichtlich immanenten Gott ereignet. Angeleitet durch biblische exempla überwindet Chrysostomus stoische Weisheitslehre. Das philosophische Konzept wird durch die Bibel deutlich als ungenügend erwiesen.

An einem ebenso deutlichen Beispiel führt umgekehrt Vladimir Cvetkovic´ das Ungenügen innerchristlicher Allegorese vor Augen. In der byzantinisch gewordenen Geisteswelt eines Maximus Confessor genügt eine Deutung von Usija in 2 Chronik 26 auf Christus nicht mehr. Usijas Renovierungsarbeit am Jerusalemer Mauerwerk ist nicht nur Typus der Versöhnungsleistung Christi, der Himmel und Erde, Seele und Körper, Gott und Mensch vereinigt, sondern zugleich Schlüssel für sich wissenschaftlich gebende Theorien. Cvetković stellt uns Maximus als einen Theoretiker dar, der in ontologischer, kosmologischer und psychologischer Systematik und unter auffälliger Verwendung der Fünfzahl die von Usija restaurierten Türme und Ecken und somit die Befestigung Jerusalems zu einem Symbol umfassender Wirklichkeiten eines sich entfaltenden und vereinenden universalen Prozesses entwickelt. In ihm lassen sich sogar die mathematischen Relationen eines Goldenes Schnitts feststellen, ein deutlicher Hinweis, könnte man hinzufügen, auf den Untergang der Religion in Quantifizierung und Schematismus.

Der Sammelband demonstriert eine mannigfache Bedeutung der Philosophie für die biblische Hermeneutik. Sie kann realisiert werden durch Verarbeitung außerchristlicher Vorbilder (Despotis), durch Umwandlung von persönlicher Biographie in Hermeneutik (Ramelli 1), durch allgemeine Texttheorien (Ramelli 2; Ross), durch anagogische Meditation einer Schriftstelle (Huian), durch Umformung einer einzelnen paganen Weisheitsregel (Edwards), durch Allegorese und Ausweitung einer biblischen historischen Information zu systematisierter Erkenntnis (Cvetković).

Alle Beiträge führen vor Augen, dass zwar der Bibel eine göttliche Autorität zugeschrieben wird, das nützliche Verständnis aber von unbiblischer Theorie abhängt. Das bedeutet, dass dem Glauben die Erzählung der Heiligen Schrift nicht genügt. Der glaubende Leser sucht einen Verstand, eine Aktualisierung der biblischen Inhalte, die ihn dann befriedigt, wenn er die Heilstatsachen in seine eigene Gegenwart und in sein Weltbild verbringen kann. Um die Bibel für das Christentum beizubehalten, muss sie philosophisch verfremdet werden. Das ist freilich modern gedacht. Rainer Hirsch-Luipold weist in einem lobenden Nachwort darauf hin, dass die Kommentierung von religiösen Narrativen, die im Hellenismus die Art zu philosophieren stark beeinflusste, auch der Begründung philosophischer Wahrheit dient. Denn mit der philosophischen Exegese wird die Gültigkeit der Religion gefestigt und ihr Bereich ausgeweitet: Die exegetischen Reflexionen führen zu einem universalen Geist, der wahr ist, weil die von ihm gedeutete religiöse Tradition wahr ist. Man könnte beinahe meinen, die paulinische Verkündung eines Gottes, der alles ist, werde mehr und mehr verwirklicht. Der Glaube ist jedenfalls durch philosophische Kommentierung kanonischer Texte zum Maß des wirklichen oder dafür gehaltenen Wissens geworden.

Alle Autoren arbeiten eindringlich und mit spürbarer Begeisterung, so dass der Leser den griechischen Intellektualismus als unausweichliches Instrument des Verstehens erlebt, vielleicht aber auch herausgefordert wird, die durch modische Forschung beiseite geschobene Frage nach dem bleibenden Unterschied hebräischer Religiosität und griechischer Theoriebildung wieder ins Blickfeld zu rücken.

Das gedankenreiche Buch ist mit mehreren Indices ziemlich gut erschlossen. Neu ist, dass die Artikel je mit einem Appendix versehen sind, in dem man besprochene Schlüsseltexte nochmals, leider nur in Übersetzung, nachlesen kann.