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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

932-934

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Morgenstern, Matthias

Titel/Untertitel:

Die große Genesis-Dichtung. Juden und Christen im Gespräch über das erste Buch der Bibel im Midrasch Genesis Rabba.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2022. XX, 522 S. m. 22 Abb. = Encounters between Judaism and Christianity, 2. Geb. EUR 118,00. ISBN 9783506791153.

Rezensent:

Peter Schäfer

Die Erforschung des rabbinischen Judentums ist in Deutschland weitgehend zum Erliegen gekommen. Um so erfreulicher ist es, dass mit dem großangelegten Buch über Genesis Rabba von Matthias Morgenstern wieder eine ausführliche Studie zu einem der wichtigsten spätantiken Midraschim vorgelegt wird. Traurig – und symptomatisch – ist dabei, dass offenbar kein Verlag das Risiko einer regulären Druckauflage gewagt hat und das Buch nur als »book on demand« im omnipräsenten Brill Verlag zugänglich ist.

M. beginnt mit einer umfangreichen Einführung, in der alle wichtigen Einleitungsfragen ausführlich, manchmal etwas zu ausführlich, besprochen werden. Neben den üblichen Erörterungen (Gattung, Forschungsgeschichte, Ausgaben) konzentriert sich die Einleitung auf zwei Themenkomplexe, einmal den »Midrasch als künstlerische Form« und zum anderen Genesis Rabba als Musterbeispiel eines rabbinischen Textes, anhand dessen die sich langsam konsolidierende »Identitätsbildung« von rabbinischem Judentum und Christentum verfolgt werden kann. Der erste Komplex ist überraschend und soll offensichtlich erklären, warum M. Genesis Rabba als »große Genesis-Dichtung« präsentiert. Als Begründung dafür dient allein der Hinweis, dass nach rabbinischer Hermeneutik die ganze Welt in der Torah enthalten und Bibelexegese somit Welterklärung ist, die durch ein vom »Midrasch-Künstler« neu konfiguriertes Geflecht an Bibelversen entsteht (8 f.). So richtig und grundlegend diese Beobachtung ist, so wenig taugt sie als Beleg für Genesis Rabba als eine große Genesis-Dichtung. M. hätte besser daran getan, seine Leser mit den Pijjut-Dichtungen vertraut zu machen und das Verhältnis von Midrasch und Pijjut genauer zu bestimmen.

Der zweite Themenkomplex folgt einem seit längerem vorherrschenden Trend in der Forschung und durchzieht, mit Recht, weite Teile von M.s Genesis Rabba-Deutung. Er steht allerdings etwas zu sehr unter dem übermächtigen – und vor allem bei christlichen Theologen beliebten – Schatten von Daniel Boyarin, der sich bei diesem Thema große Verdienste erworben hat, der aber auch mit seinen Thesen weit über das Ziel hinausgeschossen ist. Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, dass nicht nur das sich herauskristallisierende Christentum ohne das zeitgenössische Judentum undenkbar ist, sondern dass auch das Judentum, das wir »rabbinisch« nennen, nur in der fruchtbaren Konkurrenz mit diesem Christentum entstehen konnte. Aber für den Nachweis einer »gemeinsame(n) Genesis-Lektüre von Juden und Christen« oder gar das »jüdisch-christliche Gespräch, das diesen Midrasch geprägt hat«, braucht es schon etwas mehr als den Hinweis darauf, dass das biblische Buch Genesis für Juden wie Christen gleichermaßen zentral war (31 f.). Fairerweise muss man sagen, dass diese vollmundigen Bemerkungen am Ende der Einleitung wohl nur als »Appetitanreger« gedacht sind und dass die geweckten Erwartungen an vielen Stellen im Buch aufgegriffen werden. Aber auch hier gilt, wenn man sich die einzelnen Beispiele genauer anschaut, dass immer sehr weit ausholend und suggestiv jüdische und christliche Exegesen nebeneinandergestellt und verglichen werden, dass aber Belege für eine gemeinsame Genesislektüre mehr als spärlich sind. Es hätte sicher geholfen, wenn M. sich die Mühe gemacht hätte, am Schluss seine wichtigsten Befunde zusammenzufassen und auf ihre Tragfähigkeit abzuklopfen.

Die größte Überraschung erwartet den Leser, wenn er sich der Analyse von Genesis Rabba im Hauptteil des Buches zuwendet. M. legt nämlich keinen Kommentar im Duktus von Genesis Rabba vor, sondern löst den Midrasch in thematische Einzelkomplexe auf: »Im Anfang«, »Ein Gott«, »Adam und Eva«, »Der Jerusalemer Tempel«, etc. (insgesamt dreizehn solcher Themenbündel). Und dies angesichts der völlig richtigen, aber in der Sache konträren Erkenntnis, dass der Midrasch im Unterschied zur christlichen Exegese nicht an dogmatischen Konzepten von Kosmologie, Anthropologie usw. interessiert ist, sondern nur daran, ein kohärentes und intentional zusammengestelltes Beziehungsgeflecht herzustellen, das sich allein aus der Hebräischen Bibel speist (32). Das heißt, M. tut genau das, was der Midrasch dezidiert nicht will: Er systematisert ihn für den heutigen christlichen Leser! Da er verständlicherweise den einzelnen Unterabschnitten keine Übersetzung voranstellt (das hätte noch einen weiteren Band ergeben), muss der Leser sich mit M.s kommentierenden Bemerkungen begnügen und wird dadurch sogleich in dessen Deutungsschema gezogen, ohne dies im Kontext überprüfen zu können (es sei denn, er hätte die völlig veraltete Übersetzung von August Wünsche zur Hand).

Wie problematisch dies ist, lässt sich schon an den einzelnen Abschnitten der ersten Paraschah (»Kapitel«) des Midraschs zeigen. Diese sind in der Ausgabe von Theodor-Albeck folgendermaßen durchgezählt (der Bruch in der Nummerierung liegt an den zugrundeliegenden Handschriften und kann hier nicht diskutiert werden): GenR 1,1 → 1,5 → 1,6 → 1,7 → 1,2 → 1,3 → 1,4 → 1,8–1,15. M. macht daraus diese Reihenfolge: creatio ex nihilo → GenR 1,9 → 1,4 → 1,8 → 1,1 → 1,5 → 1,12 → 1,7 → 2,4. Das heißt, er stellt die Frage der Schöpfung aus dem Nichts an den Anfang, die eine große Rolle in der christlichen Theologie spielt, im Midrasch aber erst in 1,5 und 1,9 aufgegriffen wird. Als Hauptbeleg für diese Fragestellung im Midrasch zieht er 1,9 ganz nach vorne (Rabban Gamliel: keine vor der Erschaffung der Welt bereits vorhandene Urmaterie, also keine creatio ex hylis!). Dann wendet er sich den prämundanen Schöpfungsgegenständen zu, also den Dingen, die vor der Erschaffung der Welt von Gott geschaffen wurden (1,4 und 1,8). Erst darauf folgt bei M. das eigentlich am Anfang der Paraschah stehende Proömium von der Torah als dem Urgrund und Inhalt der Welt (1,1). Das Proömium von 1,5 (eine creatio ex hylis wird durch Gen 1,2 sehr wohl gestützt) verbindet er mit 1,12, weil es auch dort um die Ehre Gottes geht. Den Abschluss bildet die Untereinheit 2,4, die gar nicht zur ersten Paraschah gehört und die Gefahren aufzeigt, in die sich der Exeget des Schöpfungswerkes begibt.

Der Gedankengang, den M. hier kreiert, ist logisch nachvollziehbar – creatio ex nihilo, prämundane Schöpfung, besondere Stellung der Torah bei der Schöpfung, mögliche Akzeptanz der creatio ex hylis, Gefährlichkeit der Exegese von Gen 1,1–3 –, was aber auf der Strecke bleibt, sind die Aussageabsicht des Midrasch sowie wichtige Abschnitte, die M. unterdrückt oder weitgehend ignoriert. Was erstere betrifft, so beginnt der Midrasch nicht von ungefähr mit der Torah, dem Dreh- und Angelpunkt des rabbinischen Welt- und Geschichtsverständnisses. Erst danach spricht er die Frage der creatio ex nihilo an, und zwar mit einer Auslegung, die am Schluss die creatio ex hylis ausdrücklich einräumt (1,5: M. unterlässt es, den entscheidenden Teil dieser Auslegung zu zitieren) und der erst später (1,9) widersprochen wird. Damit gewinnt die Möglichkeit der prämundanen Materie ein ganz anderes Gewicht, als ihr von M. eingeräumt wird. Was die von M. ignorierten Abschnitte betrifft, so seien nur die Sektionen 1,2 und 1,3 hervorgehoben. GenR 1,2 diskutiert die Frage, wem das Land Israel gehört (den Juden oder den Heiden), die eigentlich ein Musterbeispiel für M.s These des jüdisch-christlichen Gesprächs wäre. Und GenR 1,3 behandelt die Frage der Mitwirkung der Engel bei der Erschaffung der Welt, die ganz zentral für das christliche Verständnis ist, die M. aber nur stiefmütterlich behandelt.

Trotz dieser kritischen Einwände hat M. mit seinem umfangreichen Band ein breites Panorama der jüdischen und christlichen Auslegung der Genesis entfaltet, eine Fundgrube und ein nützliches Arbeitsinstrument für alle, die an dieser Auslegung interessiert sind. Er gehört in jede judaistische Bibliothek.