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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

929-930

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ehrenfreund, Jacques, et Simon Butticaz [Éds.]

Titel/Untertitel:

Regards de savants juifs et chrétiens sur le judaïsme du Second Temple. Récit d'une contorverse allemande.

Verlag:

Genève: Editions Labor et Fides 2022. 205 S. Kart. EUR 19. ISBN 9782830917499.

Rezensent:

René Bloch

Der Titel dieses Buches, das aus einer Lausanner Tagung im Jahr 2019 hervorgegangen ist, verspricht eine Diskussion jüdischer und christlicher Interpretationen des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels im Deutschland des 19. und frühen 20. Jh.s. Konkret wird die Frage gestellt, wie auf jüdischer Seite die »Wissenschaft des Judentums« und auf christlicher Seite die »Religionsgeschichtliche Schule« das antike Judentum deuteten. Das Versprechen wird nur bedingt eingelöst.

Christophe Chalamet orientiert sich in seinem Beitrag zuerst an Christian Wieses »Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?« (1999), um dann zwei Forscher der Jahrhundertwende, Wilhelm Bousset und Adolf von Harnack, ins Zentrum zu stellen. Bei Bousset zeigt sich eine christianozentrische Sicht auf das hellenistische Judentum, die auch noch in der dritten, mit einem Vorwort von Eduard Lohse versehenen Auflage von 1966 stehengeblieben ist: »Es mußte einer kommen, der größer als Apokalyptiker und rabbinische Theologen war, es mußte im Evangelium eine Neubildung erfolgen, ehe aus dem gärenden Chaos wieder die Einheit und die Lebendigkeit echter und wahrer Frömmigkeit entstehen konnte.« (524) Auf Boussets Präsentation des (Spät-)Judentums als einer unschöpferischen, epigonenhaften Religion reagierte insbesondere der Königsberger Rabbiner Felix Perles (28–33), der die »vorgefassten Meinungen« Boussets kritisierte (zur Kontroverse um Bousset hätte Chalamet den Beitrag von Lutz Doering, »Wilhelm Bousset’s Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter«, Early Christianity 6 (2015), 51–66, herbeiziehen können).

Ist eine religiöse Gebundenheit ein Hindernis für eine adäquate Diskussion der antiken Religionen? Die Frage wird im Lausanner Kongressband wiederholt angesprochen. Chalamet verneint sie und argumentiert (gegen Dan Jaffé, der seinerseits im Band für das Gegenteil einsteht: 185), dass es keineswegs notwendig sei, die religiöse Identität in der Garderobe abzugeben, bevor man ins Heiligtum der wissenschaftlichen Forschung eintrete (48). Dass auch die Religionswissenschaft (wie jede Geisteswissenschaft) gewiss nicht einfach »objektiv« ist, ist Chalamet zuzugestehen (43). Aber, möchte man (mit Dan Jaffé) einwerfen, der Anspruch der Geisteswissenschaften muss dennoch ein möglichst hohes Maß an Objektivität sein (ein Ziel, das auch von der Wissenschaft des Judentums oftmals nicht erreicht wurde).

Der Beitrag von Jacques Ehrenfreund »De la controverse théologique à la polémique historique: la critique biblique protestante, la Wissenschaft des Judentums et l’histoire du peuple juif« zeichnet die Interdependenzen theologischer und historischer Erforschung des Judentums nach. Etwas ausführlicher beschäftigt sich Ehrenfreund mit Wellhausens Bibelkritik und der ihr inhärenten Herabwürdigung des Judentums (sowie der Replik von Heinrich Graetz). Viel Neues erfährt man in diesem Kapitel nicht. Richtig scheint mir hingegen der Hinweis zum Schluss, dass sich der explizit christliche Antijudaismus mit dem politischen Antisemitismus durchaus überlagern konnte (78–79).

Das Kapitel von Michael J. Thate über den Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur, »Être juif? F. C. Baur, le paulinisme et la question du judaïsme«, passt nur bedingt in diesen Kongressband. Thate hält dies auch fest (85, 107): »Nous apprenons peu de choses de Baur à propos du judaïsme du Second Temple.« Im Zentrum steht Baurs Interpretation von Paulus als universalistischem Revolutionär, der das partikularistische Judentum hinter sich gelassen habe. Dabei verwendet Baur, so Thate, das Judentum auch als Chiffre. Es steht für ihn auf einer tieferen Stufe des Bewusstseins (101), Paulus seinerseits schlicht außerhalb des Judentums (104).

Auch das nächste Kapitel stellt einen Forscher ins Zentrum. Simon Butticaz nimmt sich aus dem Kreis der Religionsgeschichtlichen Schule des Neutestamentlers Johannes Weiss und insbesondere seiner Schrift »Predigt Jesu vom Reiche Gottes« an. Nach Butticaz ist Weiss eine dissonante Stimme (137) – im positiven Sinne – im Chor der Religionsgeschichtlichen Schule: Hier werde das Judentum des Zweiten Tempels nicht degradiert. Ebenso hat der etwas ausufernde Beitrag von Dan Jaffé »Jésus et le judaïsme chez les historiens allemands de la fin du xixe siècle: L’exemple d’Adolf von Harnack« nicht eigentlich die Zeit des Judentums des Zweiten Tempels, sondern das Jesusbild in der deutschen Geschichtsschreibung zum Thema.

Der Kongressband endet mit einem kurzen Aufsatz von Kathy Ehrensperger, in dem der allmähliche, in den 1970er Jahren einsetzende Wechsel hin zu einem Verständnis des antiken Judentums im Sinne eines eigenständigen, nicht auf das Christentum ausgerichteten Phänomens gewürdigt wird.

Weil in diesem Band die Bandbreite des Judentums aus der Zeit des Zweiten Tempels oftmals auf Paulus und Jesus verkürzt wird, kommt vieles nicht zur Sprache, was für die deutsche Forschungsgeschichte des 19. und 20. Jh.s von Interesse hätte sein können (von den Sibyllinischen Büchern über Philon bis zu Josephus). Insgesamt bleibt der Erkenntnisgewinn, der sich aus diesem Kongressband ergibt, überschaubar.