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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

888–891

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Volgger, David

Titel/Untertitel:

Verbindliche Tora am einzigen Tempel. Zu Motiv und Ort der Komposition von 1.2Kön.

Verlag:

St.Ottilien: EOS 1998. XII, 418 S. 8 = Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament, 61. ISBN 3-88096-561-7.

Rezensent:

Diethelm Conrad

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Würzburger Habilitationsschrift, deren Autor aus methodischen Gründen mit den bisherigen Interpretationen der Königsbücher nicht zufrieden ist. Die Rückführung der Verständnisprobleme des Textes auf diachron differenzierte Textschichten wie etwa verschiedene dtr Bearbeitungen (DtrH, DtrP, DtrN) und die Suche nach dem ältesten geschriebenen Text habe in der Forschungsgeschichte keineswegs zu eindeutigen Ergebnissen geführt, sondern die unterschiedlichsten Lösungen hervorgebracht. Demgegenüber sieht der Vf. in einem Zweig der exegetischen Forschung, der als "Canonical Approach" bekannt ist und in B. Childs seinen vornehmsten Vertreter hat, eine geeignetere und sicherere Interpretationsmethode, da hier das Ende des Textwerdungsprozesses die entscheidende Rolle spiele und der Endtext keine imaginäre Größe sei. Der Vf. sucht "... nach einem Modell, das ,diachrone Schichtung' und ,zentrale Bedeutung eines gegebenen Endtextes' miteinander in der Weise verbindet, dass die argumentative Hauptlast ... nicht eine rekonstruierte Textschicht bzw. die diachrone Aufeinanderfolge von solchen Schichten trägt, sondern der Endtext" (3).

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel, die mittels eines numerischen Systems weiter sehr stark untergliedert sind, maximal bis zu sechs Stellen. Dies trägt allerdings eher zur Verwirrung bei, als dass es den inneren Aufbau der Kapitel durchsichtig macht. Andererseits erlaubt diese Gliederung die Mitteilung zahlreicher, oft sehr detaillierter Beobachtungen. Diese Vielfalt kann hier nicht vorgeführt werden; ich muss mich auf einige wenige exemplarische Hinweise beschränken.

In Kapitel 1 Einleitung (1-12) werden die hermeneutischen Grundsätze für die historische Arbeit offengelegt und drei Hypothesen formuliert, die als Textfilter dienen. Unter inhaltlichen Textfiltern versteht der Vf. die Orientierung des Leseprozesses an bestimmten Textabschnitten oder bestimmten Konzepten, die aus dem zu lesenden Werk erschlossen werden können. Die Hypothesen für 1.2 Kön insgesamt lauten:

"(1) Der Tempel zu Jerusalem ist der einzige legitime Ort, wo YHWH als Gott in vollem kultischen Umfange, mit Schlachtopfern usw. verehrt werden kann. YHWH wird dabei als König aller himmlischen Existenzen verehrt, seine Herrschaft umfaßt Himmel und Erde" (5).

"(2) Der Textfilter für 1.2Kön (Hypothese 1) ist erst ab der Zeit um 400 (nach Esra und Nehemia bzw. nach der brieflichen Kommunikation zwischen der jüdischen Militärkolonie in Elephantine in Ägypten und der Heimat ,Juda/Israel') - terminus post quem -, jedoch vor der Textproduktion von LXX (3. Jh. v.), spätestens vor den Textfunden von Qumran (ca. 2. Jh. v.) - terminus ante quem - plausibel zu machen" (7).

"(3) Die Priesterschaft zu Jerusalem, die in nachexilischer Zeit (5. Jh.-3. Jh.)politisch stark engagiert war, ist für den inhaltlichen Textfilter wie für die Endtextgestaltung von 1.2Kön verantwortlich" (8).

Hypothese 1 kommt in 1.2Kön zwar nirgends explizit vor, doch gibt es einige Hinweise für deren Plausibilität. Und ähnliches gilt für die beiden anderen Hypothesen.

"Das Hauptinteresse der Arbeit liegt in der Erhärtung dieser drei Hypothesen" (9). Durch sie wird auch die Textauswahl bestimmt. Analysiert werden in den umfangreichen Kapiteln 2-4 die Erzählabschnitte, in denen der Jerusalemer Tempel als Ort der Tora Hauptthema ist: 1Kön 1-11, 2Kön 22 f., außerdem 1Kön 16,21-2Kön 11. Dort kommt der Jerusalemer Tempel zwar nicht vor. In der radikalen Verwerfung aller anderen Tempel und Opferstätten in Nord-Israel (Samaria, Dan, Betel) geschieht jedoch eine so positive Rückbesinnung auf den Jerusalemer Tempel, dass der Abschnitt zu erörtern ist.

In diesen Kapiteln geht der Vf. folgendermaßen vor: Nach einer allgemeinen schematischen Übersicht über die Beobachtungen zur Erzählstruktur werden die einzelnen Textblöcke, die eine Einzelerzählung ausmachen, untersucht. Das geschieht in folgenden Schritten: 1. Analyse problematischer Textabschnitte: Hier werden die in der Sekundärliteratur der letzten 15 Jahre diskutierten diachronen Textstratifizierungen besprochen. Dabei wird gefragt, ob ein Endtextabschnitt nicht doch auch synchron gelesen werden kann. 2. Textinterpretation: Der Einzeltext, der in der Regel in Episoden und Szenen bzw. Erzählungen und Berichte unterteilt werden kann, wird als Erzähleinheit erzähltechnisch interpretiert. Der Komposition des Textes und seinen Pointen gilt das ganze Interesse. 3. Relevanz: In diesem Schritt wird das Erklärungspotential der Hypothesen auf die Einzelerzählung angewandt und überprüft. Dabei kann der Grad der Relevanz für den einzelnen Textblock ganz unterschiedlich sein. Ziel der Untersuchung ist, (neues?) Licht auf die Vergangenheit Judas/Israels zu werfen.

Kapitel 2: Der Anfang des Jerusalemer YHWH-Tempels als Ort der Tora YHWHs unter König Salomo 1Kön 1-11 (13-151) behandelt vor allem die Salomogeschichte. Nach Salomos Etablierung auf dem Thron Davids und der Stabilisierung seines Reiches beginnt in einer Zeit des Friedens und der Ordnung die Entwicklung des Großreiches. Dieses Friedensreich ist die Grundbedingung dafür, dass der weise Salomo im Gehorsam gegenüber dem Wort YHWHs Tempel und Palast in Jerusalem bauen kann. Dabei wird der Palast dargestellt als Ort hervorragender Beziehungen zu anderen Völkern und deren Institutionen, als Ort also der außenpolitischen Erfolge. Im Tempel hingegen ereignet sich die lebenswichtige Kommunikation zwischen dem König und YHWH, der seine Weisung für sein Volk Israel für alle Zeiten gültig durch Mose verkündet hat und der im Tempel seinen Namen zum Wohl des gehorsamen Volkes Israel wohnen lassen will. Der Abfall Salomos zu anderen Göttern, sein Ungehorsam gegenüber YHWH (1Kön 11), beendet jedoch die Zeit des Friedens. Salomos Reich zerfällt, neue Feinde erstehen. Denn zum Gehorsam gegenüber der Tora, der Weisung YHWHs, wird keine Alternative gesehen. - Der Textabschnitt 1Kön 12-16,20 wird bei der Einzeltextanalyse nicht berücksichtigt, u. a. weil in ihm kaum neue, relevante Gesichtspunkte für die hypothesengeleitete Untersuchung zu erkennen sind.

Kapitel 3: Anfang und Ende des Tempels in Samaria 1Kön 16,21-2Kön 11 (152-312) geht es um die Beurteilung der Geschichte der Könige des Nordreiches Israel und um die Propheten Elia und Elischa. Die Vernichtung des Baaltempels in Samaria wird positiv bewertet, da er eine Beleidigung YHWHs darstellt. Aber auch der Kult an den YHWH-Heiligtümern in Betel und Dan wird verurteilt, weil er nicht dem Gehorsam gegenüber der Weisung YHWHs entspricht. So gibt es in Nordisrael keine wahre YHWH-Kultstätte. Diese Leerstelle kann nur auf den Jerusalemer Tempel verweisen. Die von YHWH beauftragten Propheten haben keinen opferkultischen Hintergrund. Ohne Zweifel ist aber ihre Botschaft kompatibel mit der am Jerusalemer Tempel vorgestellten Mose-Tora. Alle wahren YHWH-Propheten in Nordisrael gelten als Chance zur Umkehr zur wahren YHWH-Verehrung. Sie werden als Mahner der Gebote und Weisungen JHWHs verstanden. Sie sind weniger Rezipienten der YHWH-Weisung als vielmehr ihre Tradenten. Wenn die Propheten den Untergang Israels ankündigen, dann resultiert das auf der Nichtbefolgung der Weisung YHWHs. Die Beobachtungen in diesem Textabschnitt im Vergleich zu den Büchern Esr/Neh lassen vermuten, dass seine Textproduktion in die Zeit um Nehemia oder danach zu verlegen ist. Das heißt, dass der Beurteilungsmaßstab der Vergangenheit Israels und Judas, der auch für diese Nordreichserzählung gilt, erst aus der nachexilischen Zeit stammen kann. - Auch der Textabschnitt 2Kön 12-21 wird in der Einzelanalyse nicht behandelt, doch ist für ihn ebenfalls die Gültigkeit der Hypothesen 1-3 vorausgesetzt.

Kapitel 4: Die Tora YHWHs im Jerusalemer Tempel und die joschijanische Reform 2Kön 22 f. (313-367) widmet diesem viel verhandelten, wichtigen Text besondere Aufmerksamkeit, zumal in ihm die YHWH-Tora und der YHWH-Tempel eine zentrale Rolle spielen. Auf der Matrix der Textuntersuchungen von H. Spieckermann (diachrones Modell) und H. D. Hoffmann (synchrones Modell, aber Datierung in exilische oder frühnachexilische Zeit) kommt der Vf. in seiner Analyse ebenfalls ohne diachrone Schichtungen aus, datiert die Textproduktion dieser Kapitel jedoch in die Zeit nach Nehemia. Ausgangsereignis ist das Auffinden eines Buches im Jerusalemer Tempel zur Zeit Josias, das mit dem Mosegesetz(buch) identifiziert wird. Da man davon ausgehen kann, dass es dann am Jerusalemer Tempel schriftliche Traditionen gab, löst sich das Problem des gefundenen Buches. Die Erzählung davon wird aus der Sicht der Zeit nach Nehemia als Verortung der Mose-Tora verständlich. Die Funktion dieses Textes ist es, die Kontinuität zwischen der Königszeit und der Zeit Nehemias zu unterstreichen. Die beschriebenen, vorwiegend kultischen Reformmaßnahmen Josias sind aus der programmatischen Sicht von Angehörigen des Jerusalemer YHWH-Tempels der Zeit nach Nehemia dargestellt worden.

Da immer wieder - wenn auch nur kurz - in den vorhergehenden Kapiteln die historische Situation Esras und Nehemias als Zeit der Textproduktion von 1.2Kön eine Rolle spielt, ist dies Thema eines abschließenden 5. Kapitels (368-392).

In die Untersuchung eingestreut sind vier Exkurse, die gesondert besondere Probleme der Semantik und der Verbalsyntax (z. B. die x-qatal-Formen) behandeln.

Das Ende des Buches bilden ein Abkürzungsverzeichnis (393, allerdings nur für grammatische Termini), ein Literaturverzeichnis (393-406, mit einigen Lücken), ein Autorenregister (406 f.) und ein Bibelstellenregister (408-418).

Wie gesagt, ein materialreiches Buch! Offen bleibt für mich, ob man, wie geschehen, Hypothesen als Textfilter so an den Anfang der Bearbeitung des Textes setzen kann oder sie nicht doch erst aus der Untersuchung entwickelt. Nun ist die Arbeit zwar kein Kommentar, doch der behandelte Text ist mehr als umfangreich, und von daher vielleicht doch zu umfangreich für ein Buch. Ich frage mich aber doch, wenn man das theologische Gesamtgefälle von 1.2Kön ermitteln will, ob man dann so viele Kapitel Text auslassen kann. Die synchrone Bearbeitung des Textes hat sich anscheinend aber bewährt und hat ein scharfes theologisches Profil erbracht. Bemerkenswert ist, dass - nicht außerhalb des Trends - die Datierung der Textproduktion auch solcher "historischer" Bibelbücher wie 1.2Kön immer jünger wird.