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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

817–819

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Störmer-Caysa, Uta

Titel/Untertitel:

Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. X, 438 S. gr.8 = Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 14. Geb. DM 210,-. ISBN 3-11-016206-7.

Rezensent:

Peter Heidrich

Zwei Bücher hat die Vfn. im Jahre 1998 vorgelegt: neben dem angezeigten eine Einführung in die mittelalterliche Mystik, unter dem Titel "Entrückte Welten", bei Reclam in Leipzig. Die Themenkreise beider Bücher berühren einander, der gedachte Kreis der jeweiligen Leser setzt Unterschiede voraus. Sicher ist die Entrücktheit im Titel ein Hinweis auf die Fremdheit dieser Welt gegenüber dem Menschen der Gegenwart - ein bibliographischer Hinweis spricht von den "Gegenwelten der mittelalterlichen Mystik". Das Werk über Gewissen und Buch ist für den Fachmann mittelalterlicher Philosophie und Theologie bestimmt, die Materialfülle macht die Lektüre manches Mal mühsam. Der durch prägnante Knappheit sich auszeichnende Überblick des kleineren Werkes bleibt hier gelegentlich Desiderat. Dabei ist eindrücklich, was aus der Wortgeschichte an kulturellen Bezügen ablesbar wird. Zur Geschichte der Seelsorge bekommt der Leser einen Beitrag, auch werden gesellschaftliche Verhältnisse einer vergangenen Zeit sichtbar. Wenn die Reihe, in der das Buch erschien, begründet wurde als "Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker", könnte der Rahmen des Buches nicht passender bestimmt werden. Der Reichtum des Materials wird manchen anregen über den strenggefassten Rahmen des Themas hinaus. 1996 wurde das Werk als Habilitationsschrift in Erlangen vorgelegt.

Die Vfn. fragt, warum bestimmte Epochen neben Bewusstsein, Selbstbewusstsein, praktischer Vernunft einen eigenen Begriff Gewissen brauchen. Seit der Mitte des 12. Jh.s sind conscientia und synderesis da, um "Gewissen" zu kennzeichnen. Foucault wird zitiert, der mit der Einführung der zumindest jährlichen Ohrenbeichte 1215 ein zentrales Datum für die Entstehung einer modernen Geständnisgesellschaft festschreibt. Jetzt brauchen die Laien einen fasslichen Begriff, und zwar in der Volkssprache, für Gewissen. Aber das englische conscience ist eher Besinnung, Bedenken, Bewusstsein; für das Verständnis des Hamletverses "thus conscience does make cowards of us all" ist das von hohem Belang. Die Formung von Texten formt den Begriff selbst mit.

In zwei Teilen geht die Untersuchung vor. Zuerst geht es um die deutsche literarische Tradition bis zum Ende des 12. Jh.s, dann werden lateinisch-scholastische Auseinandersetzungen um das Gewissen bis zum Ende des 13. Jh.s rekonstruiert. Schließlich wird gezeigt, wie der scholastische Gewissensbegriff in volkssprachlicher deutscher Theologie und religiöser Prosa bis zur Mitte des 14. Jh.s aufgegriffen wird. Teil 2 führt drei Auslegungen der 10 Gebote vor - aus dem späten 14. und beginnenden 15. Jh. In Form von Summen des Normwissens wachsen Tendenzen zur Beratung beim Buch.

Die Untersuchung beginnt mit zwei Abschnitten: das Wort ohne die Sache, die Sache ohne das Wort. Zudem muss eine literarische Figur "ich" sagen können, muss über dieses Ich reflektieren können und sich selbst ihre Taten anrechnen. Mittelalterliche Minnelyrik ist dabei von Bedeutung. Die Wortgeschichte von syneidesis, synteresis, synderesis, z. B. bei den Ezechielvisionen, wird wichtig. Die Beichtvorschriften lassen im 13. Jh. die OFM-Studien auf dem Gebiet der Rechte, die OP-Studien auf dem der Theologie führend werden. Ihrer Darstellung werden viele Seiten gewidmet. Der franziskanische Ansatz fragt nicht: Was muss der Mensch wissen, damit Gottes Denken von ihm Besitz ergreift? - das wäre dominikanisch - sondern: Was muss der Mensch wissen, damit er mit Gottes Liebe liebt? Die Baumgarten-Sammlung bietet da viel Material.

Für die Themen des 14. Jh.s kommen drei synderesis-Vorstellungen in den Blick: Eckharts Gottebenbildlichkeit. Das Buch von der geistlichen Armut, das den Willen des Menschen betont. Marquard von Lindau, der bewusst andere Wege versucht als Eckhart.

Der Wandel der Lebensverhältnisse verlangt neue Wege der Seelsorge, speziell bei Frauenkonventen, fordert Berücksichtigung der Stadtwirtschaft. Bei der Frage, wieweit Kaufleute, Handwerker und moralpredigende Geistliche akademische Quellen studieren, greift die Vfn. in die Auseinandersetzung der wissenschaftlichen Literatur ein. Was gab es für Interessengemeinschaft von Stadt und Bettelorden? Es entwickeln sich große Abhandlungen über das Gute und Rechte, "deutsche Summen" (Ruh). Lesefähigkeit und Verfügbarkeit von Büchern müssen sicher sehr gering eingeschätzt werden, die Beratung durch ein Buch dürfte kaum im 14. Jh. eine Rolle gespielt haben, aber eine Tendenz dorthin ist zu bemerken. Den Abschluss des 1. Teils bildet eine Befragung lateinisch-deutscher Wörterbücher mit beachtlichen Ergebnissen.

Teil 2 schlägt den Bogen bei der Auslegung der 10 Gebote vom Mittelalter bis zu Luther. Das Phänomen der Rechtssumme taucht auf. Heinrich von Friemar, Marquard von Lindau, Nikolaus von Dinkelsbühl werden ausführlich dargestellt und gedeutet. Synderesis, in der Hochscholastik mit conscientia zusammen erörtert, ist in Dekalogserklärungen nicht mehr ausdrücklich genannt. Jetzt gibt es Bücher, die in Gewissensfragen beraten, wobei der Rat einer objektivierbaren Norm entstammt, die in göttlicher Autorität gründet.

Aus einer bewegten Wortgeschichte, die in der Philosophie bis zur Aufklärung wirksam bleibt, stellt die vorliegende Untersuchung einen wichtigen Abschnitt dar. Die Ausführlichkeit der Einzelerörterung lässt die Wertungen der Quellen gelegentlich zurücktreten, aber im Wandel menschlicher Geschichte wandelt sich auch eine solche Größe, die oft abstrakt als unveränderbar verstanden wird. Literaturverzeichnis, Sach- und Wortregister lassen keine Wünsche offen.