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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

803–805

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tidball, Derek J.

Titel/Untertitel:

Reizwort Evangelikal. Entwicklung einer Frömmigkeitsbewegung. Deutsche Ausgabe hrsg. von D. Sackmann.

Verlag:

Stuttgart: Edition Anker 1999. 400 S. 8 = Horizonte. Kart. DM 45,-. ISBN 3-7675-7058-0.

Rezensent:

Reinhard Hempelmann

Gegenstand dieses Buches ist die Darstellung der Evangelikalen Bewegung in geschichtlicher (Teil eins: 45-135) und gegenwartsorientierter (Teil drei: 309-333) Perspektive, wobei sich die Darstellung auf die Entwicklungen in Großbritannien und Nordamerika konzentriert. Dazwischen hat der Autor den umfangreichen "Teil zwei" (139-305) gestellt, der sich unter sieben thematischen Gesichtspunkten (Bibel, Erlösung, Bekehrung, Eschatologie, Kirche, soziales Handeln, Spiritualität) mit evangelikalen Lehrinhalten befasst und diese als zentrale Ausdrucksform des Selbstverständnisses der Bewegung versteht.

Um zu den eigenen Worten T.s in diesem Buch zu gelangen, muss man einige Seiten Text anderer Autoren zur Kenntnis nehmen. Drei Geleitworte und eine 25-seitige Einführung des Herausgebers Dieter Sackmann, ehemaliger Dozent für Praktische Theologie am Seminar der Evangelisch Methodistischen Kirche, sind den Ausführungen T.s vorangestellt. Die Geleitworte unterstreichen die Zustimmung zu T.s Ausführungen von Seiten der Evangelikalen Bewegung. Er selbst versteht sich als dieser Bewegung zugehörig, ist Baptist, Leiter der Missionsabteilung der Baptistischen Union in Großbritannien und Vorstandsmitglied der Evangelischen Allianz. Insofern schreibt er aus einer, freilich auch selbstkritisch reflektierenden, Innenperspektive, die sich immer wieder dem Dialog mit Außenperspektiven stellt. Die instruktive Einführung Sackmanns (mit umfangreichen Anmerkungen!) vermittelt dieses Buch, das bereits 1994 in englischer Sprache erschien, in den Kontext kontinentaleuropäischer Entwicklungen. T. widmet das Buch dem London Bible College, von dem aus er als Student und Mitglied des Kollegiums viele Anregungen aufnahm.

Ausgangspunkt der Darstellung ist die Beobachtung des Wiedererstarkens der Evangelikalen Bewegung seit Mitte des 20. Jh.s, also zu einem Zeitpunkt, als die meisten Beobachter das Fortschreiten von Entkirchlichungsprozessen in der westlichen Welt konstatieren. T. fragt nach Ursachen der gewachsenen Attraktivität und Anziehungskraft evangelikaler Frömmigkeit und sieht diese vor allem in ihrer Nähe zur urchristlichen Glaubensdynamik, in einer aus dem lebendigen Umgang mit der Bibel kommenden Glaubenspraxis und der Akzentuierung des missionarischen Auftrags begründet. Im Anschluss an John Stott weist er auf die Zentralität des zweiten Glaubensartikels als charakteristischem Merkmal evangelikaler Theologie und Frömmigkeit hin. Seine Erläuterung des Begriffs "evangelikal" lenkt das Augenmerk auf die Pluriformität der Bewegung. Die innerevangelikale Diskussion wird mit vielen Namen und Zitaten in verschiedenen historischen und gegenwartsorientierten Aussagezusammenhängen aufgezeigt, was teilweise zu thematischen Überschneidungen führt. Die vom Vf. vorgenommenen begrifflichen Differenzierungen zwischen "Fundamentalisten", "Charismatikern" und "Evangelikalen" haben Plausibilität und exemplifizieren die Weitläufigkeit der Evangelikalen Bewegung. Fragmentierungsprozesse werden in Blick genommen und dargestellt, nicht aber zu der Frage nach der Einheitlichkeit der Bewegung weitergeführt. Schon durch die singularische Wortwahl "Evangelikale Bewegung" wird der Akzent auf die Einheitlichkeit gelegt. Wandlungsprozesse evangelikaler Identität - zum Beispiel durch die Annäherung zwischen Evangelikalen und Charismatikern oder die vielfach nicht mehr geübte ekklesiologische Enthaltsamkeit in der Tauffrage angesichts zahlreicher Gemeinde- und Kirchengründungen - treten gegenüber vorausgesetzten inhaltlichen und strukturellen Kontinuitäten zurück. Wo der Vf. über erwecklich geprägte Ausprägungen des Christentums hinausblickt und etwa evangelikale Frömmigkeit in ihrer Charakteristik zu Katholizismus und Liberalismus in Beziehung setzt, verbleiben seine Ausführungen im Holzschnittartigen und Vordergründigen.

T.s historische Ausführungen entwickeln ein Verständnis der Evangelikalen Bewegung, das seinen Ausgangspunkt in der Kirche von England im 18. Jh. hat. Mit Recht weist er auf unterschiedliche Entwicklungen in England und Nordamerika hin und erläutert gegenwärtige Ausdrucksformen des Evangelikalismus durch Rekurs auf seine geschichtlichen Wurzeln. Die wichtige Frage nach dem Einfluss fundamentalistischer Strömungen wird im Blick auf England und Amerika je verschieden beantwortet. Nach T. war der Fundamentalismus in historischer Perspektive "im wesentlichen ein amerikanisches Phänomen" (127). Bereits der Gliederung des Buches kann entnommen werden, dass er die Evangelikale Bewegung vor allem von ihren Lehrinhalten her begreift und darin eine verbindende und regulierende Kraft evangelikaler Identität sieht. Das Moment der Erfahrungsorientierung wird diesem Gesichtspunkt zugeordnet.

Das Buch bezieht sich auf einen Themenbereich, der im deutschsprachigen Kontext wenig erforscht ist. Es informiert kenntnisreich aus einer Innenperspektive, trägt einen klar gegliederten Gedankengang vor und berührt wichtige Fragen, die gegenwärtiges evangelikales Selbstverständnis in der westlichen Welt beschäftigen. T.s Ausführungen enthalten trotz seiner zum Ausdruck gebrachten Sympathie für die Evangelikale Bewegung zahlreiche (selbst)kritische Bemerkungen: "Der volkstümliche Evangelikalismus ist trotz aller guten Absichten oft gegenüber anderen Kulturen nicht einfühlsam genug" (208). "Jesus trat völlig ohne Härte und Verteidigungsmentalität auf, der man gelegentlich im evangelikalen Ghetto begegnen kann" (333). Kritikern wie James Barr wird zugestanden, dass sie treffende Beobachtungen gemacht und berechtigte Anfragen gestellt haben. Gleichzeitig hält der Vf. Barr vor, das evangelikale Profil nur eklektisch und fehlerhaft wahrzunehmen.

Die Arbeit T.s enthält einen ausführlichen und kenntnisreichen Anmerkungsteil, der zeigt, dass der Autor die englischsprachige Forschung zu seinem Thema weitgehend zur Kenntnis genommen und intensiv verarbeitet hat. Den Anmerkungen jedes Kapitels sind Lesevorschläge vorausgestellt, so dass die Publikation hier den Charakter eines Studien- und Arbeitsbuches gewinnt, das auch die Erforschung des Evangelikalismus im deutschsprachigen Kontext mit einbezieht und dabei Außen- wie Innenperspektiven Raum gibt. Im historischen Teil der Ausführungen zitiert der Vf. eher aus Sekundärliteratur als aus Quellentexten. Er möchte den Leser zur Lektüre neuerer Bücher zur Thematik erwecklicher Frömmigkeit anregen, wobei diese Begründung den wissenschaftlich Interessierten nicht überzeugen kann.

Obgleich T. auch Soziologe ist, tritt er in eine Diskussion der Frage nach außertheologischen Faktoren für die Ausbreitung der Evangelikalen Bewegung nicht näher ein. Eine stärkere Berücksichtigung der Frage nach der Bedeutung erwecklicher Frömmigkeitsbewegungen im Kontext ambivalener Wirkungen von Modernisierungsprozessen und den nicht zu übersehenden innovativen Schranken des institutionalisierten Christentums in modernen Gesellschaften würde seinen Deutungsperspektiven weitere wichtige Gesichtspunkte hinfügen. Gleichwohl kann das Buch als Beispiel für einen zwar ergänzungsbedürftigen, aber respektablen Versuch gelten, die Impulse evangelikaler Frömmigkeit in größeren theologischen und historischen Zusammenhängen zu reflektieren.