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Ausgabe:

Juli/August/2000

Spalte:

735–737

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Labahn, Antje

Titel/Untertitel:

Wort Gottes und Schuld Israels. Untersuchungen zu Motiven deuteronomistischer Theologie im Deuterojesajabuch mit einem Ausblick auf das Verhältnis von Jes 40-55 zum Deuteronomismus.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1999. 320 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 143. Kart. DM 70,60. ISBN 3-17-015894-5.

Rezensent:

Peter Höffken

Die Göttinger Dissertation fragt umfänglich nach Einflüssen deuteronomistischer (=dtr) Theologie auf das Deuterojesaja-Buch (=Dtrjes). Das Unternehmen wird einleitend (Kap. I) in den Kontext der dtr Beeinflussung oder Redaktion anderer Prophetenbücher (15-37) und in die neuere Forschungssituation zu Dtrjes (37-43) gestellt. Die eigene Eruierung dtr Einflüsse kommt über Spurenelemente solcher Einflüsse weithin nicht hinaus. Diese werden in den ersten Kapiteln des Buches (Kap. II-VI, zu den bearbeiteten Texten s. sogleich) sehr akribisch erarbeitet. Im Gegensatz zu diesen Ad-hoc-Spuren dtr Denkens- einzig etwas aufgebrochen durch die in den Wort-Gottes-Aussagen in Kap. 40 und 55 greifbare rahmende und interpretierende Absicht - steht dann der Befund, den Kap. VII entwickelt: Hier lässt sich von einem umfänglicheren und strukturgebenden Einfluss (spät)dtr Denkens auf das Buch Dtrjes reden, den L. als "schuldorientierte Überarbeitungsschicht" bezeichnet. Hier werden Motive dtr Geschichtsdenkens in dtrjes bestimmte Vorgaben integriert, um eine Schuld Israels (von früheren Generationen bis in die Gegenwart der Schichtverfasser) zu thematisieren, die die Ankunft des von Dtrjes angesagten Heils behindert.

Die Arbeit setzt ein mit Analysen zu Epilog (Kap. 55) und Prolog (Kap. 40) (Kap. II und III), um dann weiteren Spuren dtr Denkens in Kap. 51 (IV), 41,8b-9 u. 43,3b-4 (V), 54,7-10 (VI) nachzugehen. Beim Epilog setzt L. dtr Einflüssen auf das Davidsbild in 55,2b-5 nach; dann den Bezügen zur Rede von der Suche des nahen Gottes in Verbindung mit der individualisierten Umkehrforderung (55,6 f.); endlich der Rede von der Wirkung des Jahwewortes in 55,8-11 (44-95). Beim Prolog werden neben Bezügen des Redens vom Gotteswort in V. 8 solche zur Abschlussformel in 40,5 zu dtr Aussagen erhoben (96-106). Oder anders: L. rechnet mit einem Einsatz von V. 5 Ende ("denn der Mund Jahwes hat es geredet") und V. 6b-8 in einen vorgegebenen Zusammenhang von V. 1-5* und 6a. 9f., auf dtr Basis, aber unter Einbindung in die dtrjes Aussagen.

Kap. IV (107-136) widmet sich der Suche nach Spuren dtr Theologie in Jes 51. Diese Spuren bestehen in einzelnen Worten und Wortverbindungen, die in dem nach-dtrjes Kap. Verwendung fanden, ohne größere geschichtstheologische Zusammenhänge zu aktualisieren (eine kurze Zusammenfassung der Befunde 135 f.): das Motiv des Taumelbechers; das des "Vergessens Jahwes" (V. 13): die Tora im Herzen (V. 7a: Reminiszenz an Jer 31,33); die Anrede "Die dem Heil/der Gerechtigkeit Nachjagenden" (V. 1) sei Erinnerung an Dtn 16,20. - Das anschließende Kap. V widmet sich Jes 41,8b.9 und 43,3b-4, Stellen, die interpretiert werden als Aussagen über die "Liebe Jahwes als Grund für die Sammlung der Diaspora" (so die Überschrift). Dabei wird Jes 41,8b ("Nachkomme Abrahams, meines Liebenden") leider ohne Diskussion der sprachlichen Problematik als Ausdruck der dtr Aussagen über die Liebe Gottes zu Israel, den Vätern usw. genommen. Und 43,3 f. wird auf dem Hintergrund entsprechender (hoseanischer und) dtr Aussagen verstanden.

Kap. VI (168-189) befasst sich mit der Topik des "Bundes" in 54,7-10 und 49,8 bzw. 42,6 ("Bund des Volkes"). Für 54,7-10 ergeben sich im Wesentlichen dekontextualisierte dtr Stichworte (Zorn, Erbarmen; Bund u. Gnade), die in einen neuen Kontext eingebracht wurden. Dies setzt sich in der Rede vom "Bund des Volkes" fort, der im Kontext der Auslegung der Gottesknechtslieder I und II in 42,6 u. 49,8 dann 54,10 aktualisiert.

Nur in jenen Texten, die L. der "schuldorientierten Bearbeitungsschicht" zurechnet, erkennt sie eine weitergreifende redaktionelle Bearbeitungsabsicht, während die soeben angesprochenen Texte eher Pointierungen oder Markierungen einzelner Aspekte oder Gedanken zum Ausdruck bringen. Dieser Schicht werden in Kap. VII (190-255) Jes 48,1-11; 42,24.b.c-25; 43,22-28; 47,6 f.; 46,8.12-13; 48,17-19 und 50,1-3 zugerechnet. Dabei bedient sich diese Bearbeitungsschicht weithin der Technik, vorgegebene sekundär-dtrjes Texte neu zu interpretieren. Einzig in 48,17-19 u. 50,1-3 werden eigenständige Worte gebildet. So wird die Grundlage in 48,1-11 in den vom dtr inspirierten Geschichtsbild beeinflussten Versen 1d.4.5b.7b.8-9 neu interpretiert. Entsprechendes gilt für die Bearbeitung der Vorlage 42,18 ff. durch V. 24b.c-25, bzw. in 43,22-28 sei die zu Grunde liegende Opferkritik durch die Verse 24b.27.28b (V. 25 ist noch später) im Sinne der Schuld-Unheilsgeschichte Israels neu akzentuiert worden. Darin ist einleuchtend, dass hier nicht nur Stichworte oder Begriffe dtr Provenienz, sondern weiterreichende Kontexte oder Zusammenhänge einbezogen werden.

Die Autorin bringt in einem letzten Teil ihrer Arbeit (Kap. VIII, 256-284) zunächst eine Zusammenfassung ihrer analytischen Befunde, wobei auch über die zeitlichen Verhältnisse der verschiedenen dtr Einflüsse auf das Buch Dtrjes nachgedacht wird (256-260). Das ist (für eiligere Leser) ein geschickter Extrakt der Arbeit zuvor. Eine Weiterführung besteht darin, dass L. eine Gegenüberstellung von Dtrjes-Tradition und dtr Theologie vorführt und nach den Bedingungen der Möglichkeit der Beeinflussung der ersteren durch die letztere (nur am Rande auch umgekehrt) fragt. Beide Traditionskreise werden als unterschiedliche Entwürfe aus exilisch-nachexilischer Zeit auf unterschiedlicher lokaler Basis (Dtrjes in Babylonien, Dtr in Palästina) gewürdigt, wobei vielleicht doch etwas vorschnell dem dtr Traditionskreis eine ausschließliche Israelorientierung (die nur an den spätdtr Rändern etwas ausfranst) und im Gegenüber dazu Dtrjes eine universale Optik attestiert wird. Die Rolle Israels hätte doch genauerer Markierung bedurft!

Es ist angezeigt, den Ertrag der Arbeit bezüglich der beiden Weisen der Rezeption dtr Denkstile positiv zu würdigen: einmal weithin auch konzeptionelle Bezüge, auf der anderen Seite dann eher Stichworte oder auch Spurenelemente dtr Begrifflichkeit in veränderten Kontexten. Vor allem bei letzteren ist vielleicht auch mit einer Überdehnung der Begrifflichkeit "dtr" zu rechnen, die den Begriff inoperabel machen kann - etwa wenn die Rolle Abrahams in Jes 41,8b auf dem Hintergrund des chron Werkes, d. h. 2Chron 20,7, gesehen wird (vgl. 258). Ein solches Urteil bleibt doppelt unbefriedigend, weil es weder auf die Problematik des Aufgreifens prophetischer Überlieferung im chron Werk generell eingeht (klassisch immer noch G. von Rad, Die levitische Predigt in den Büchern der Chronik, in: ders., Gesammelte Studien zum AT. 1961, 248 ff.), noch das Verhältnis von "dtr" zu "chron" weiter bedenkt. Auf alle Fälle wird der Begriff "dtr" damit sehr weiträumig bestimmt. Unbefriedigend ist hier außerdem, dass L. auf die sprachliche Seite (Abraham als 'oheb Gottes) überhaupt nicht eingehen zu müssen meint. Diese könnte nämlich auf eine ganz andere Spur setzen: nicht auf die der Liebe Gottes zu den Vätern bzw. hier zu Abraham, sondern auf die - ebenfalls dtr - der Liebe von Menschen zu Gott. Endlich ist es vielleicht auch eine Engführung, die durch die Fokussierung des Interesses auf die "Schuld Israels" bedingt ist, wenn mögliche spätdtr Einflüsse auf Jes 47,6 insgesamt nicht diskutiert werden: Die Rede von dem fehlenden "Erbarmen" Babels gegenüber den Judäern könnte durchaus auf dem Hintergrund von 1Kön 8,50; Jer 42,12 (vgl. Amos 1,11) gesehen werden, wenn man denn dtr Einflüsse thematisiert. Auch an anderer Stelle könnte man sich eine genauere Eingehensweise wünschen: So bleibt bei der Diskussion des Satzes "hättest du doch auf meine Gebote gemerkt!" (48,18, vgl. 242 f.) der für die Verbindung von "aufmerken" und "Geboten" einzige weitere Beleg in Neh 9,34 unerörtert.

Nachdenken kann man auch über die Tragweite des Phänomens "dtr", wenn L. Jes 55,11 neben Dtn 32,47 stellt und dann sagt, das hebr. Wort für ,umsonst/vergeblich' "stellt den für die dtr Theologie charakteristischen Terminus dar, um das Motiv der Wirkungslosigkeit des Jahwewortes zu bezeichnen" (93). Denn der fragliche Begriff kommt in diesen Zusammenhängen schließlich nur an diesen beiden Stellen vor ... Anders gesagt:Ist alles, was im dtrG steht, eo ipso "dtr"? - Zu überprüfen scheint mir auch, ob die grundsätzlich im Anschluss an U. Becker, Jesaja- Von der Botschaft zum Buch. 1997 (und Vorgänger, vgl. 266 f.) bestimmte "schuldorientierte Bearbeitungsschicht" wirklich so einheitlich auf gegenwärtige Verschuldung bezogen werden kann: Kap. 47 fällt da schon heraus. Im Unterschied zu 42,24 f. dürfte 43,27 f. viel stärker vergangenheitlich orientiert sein.

Von Einzelheiten abgesehen liegt eine solide Leistung vor, die die Problematik weiträumig bearbeitet und bedenkt - und zu weiterer Arbeit auffordert.