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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

884-885

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Renzenbrink, Bernt u. Gerhard Wegner [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Engagement im Ruhestand.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 256 S. m. Abb. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374070121.

Rezensent:

Dörte Gebhard

»Gott kennt keinen Ruhestand.« (91) Mit dieser eigenwilligen Feststellung über den Schöpfer aller Dinge, auch des Sabbats, geht der letzte von vier Fachbeiträgen zu Ende, ehe 13 biographische Beiträge das Engagement im Ruhestand auf vielfältige, lebensnahe und keinesfalls übereinstimmende Weise illustrieren. Der Sammelband entstand »im Kontext des Senior Consulting Service Diakonie e. V. (SCSD), einem Zusammenschluss von ehemaligen Führungskräften aus Diakonie, Kirche und Wirtschaft« (12), der sich selbst vorstellt als »Verantwortungselite, die unser Land an ihren jeweiligen Orten geprägt hat« (14). Die wissenschaftlichen Fachbeiträge helfen, die Fülle der Veränderungen im »viel beschworenen Unruhestand« (9) zu strukturieren.

Andreas Kruse, Jahrgang 1955, Gerontologe, beschreibt die Potenziale des Alters als seelisch-geistige Grundlage für die Verwirklichung des Aufgabencharakters des Lebens. Er kritisiert, wie wenig die Bereitschaft und die Fähigkeiten, sich als alter Mensch für das Gemeinwohl zu engagieren, erkannt und genutzt werden. Es gehe darum, »Gelegenheitsstrukturen zum intergenerationellen Austausch« (36) zu schaffen und weiterzuentwickeln. Kruse ist Autor einer Studie zu den Daseinsthemen alter Menschen. Befragt wurden 400 Frauen und Männer zwischen 75 und 95 Jahren. Das Daseinsthema ›Eine Aufgabe im Leben haben‹ erwies sich dabei als Schlüsselthema hinsichtlich der psychischen Situation, wie es bereits Viktor Frankl herausgearbeitet hatte.

Petra-Angela Ahrens, Jahrgang 1958, Oberkirchenrätin und Diplom-Sozialwirtin, wertet das jüngste Freiwilligensurvey von 2019 aus. Menschen im dritten und vierten Lebensalter haben besonders viel »Nachwuchs«, über 60-jährige machen unterdessen 29 % der deutschen Bevölkerung aus. (37) Der Trend zu mehr Engagement erstreckt sich immer stärker auch auf die über 80-jährigen, die nach wie vor einer defizitorientierten Wahrnehmung unterliegen.

Cornelia Coenen-Marx, Jahrgang 1952, Pastorin und Publizistin, zeigt, wie Ältere aktiv und innovativ ihren Sozialraum gestalten. Nach der Pension kann man »Weitermacher«, »Anknüpfer« und die »Befreiten« (60) unterscheiden. Dabei beschränkt sich Coenen-Marx nicht auf eine Elite, sondern schaut auch auf »Dorfladenbewegung und die Bürgerbusse, die Mehrgenerationenwerkstätten und die Mittagstische, [...] die Reparaturwerkstätten« (62), sie hat Caring Communities ebenso wie entstehende, demenzsensible Sozialräume im Blick.

Gerhard Wegner, Jahrgang 1953, Publizist, Pastor und Praktischer Theologe, erschließt die Verheißung des Alters, die Freiheit. Ihm geht es um »eine sinnstiftende Vision für die hohen Lebensjahre eines Menschen bis hin zum Tod – und auch darüber hinaus.« (75) Wegner plädiert für einen kategorialen Wandel bei der Wahrnehmung des Alters. Dabei wird der alte Apostel sein Gewährsmann: »Nimmt man den Paulus des Römerbriefs beim Wort, dann stellen Leiden und Tod ganz und gar keine göttliche Pädagogik dar, sondern sind flüchtige Realitäten, die von Gott selbst überwunden werden – und in Christus längst überwunden sind.« (89) Daraus folgert Wegner: »Viel angemessener, als von einem memento mori zu reden, wäre es deswegen, die Perspektive zu drehen und an das Geborenwerden der Menschen zu erinnern. Auch darin steckt die Erfahrung von Abhängigkeit – ich bringe mich nicht selbst zur Welt –, aber einer äußerst positiven Abhängigkeit, einer, die mein Leben begründet und ermöglicht – und nicht begrenzt.« (90)

Die biographischen Beiträge im zweiten Teil sind verfasst von zwölf Männern der Jahrgänge 1938 bis 1955 und nur einer Frau, die ihr Alter nicht verrät. Beides gehört zu dieser zeitgeschichtlich interessanten Momentaufnahme. Dass alle leitend tätig waren und die Weite aller Berufe und Berufungen in der Diakonie nicht zur Geltung kommen kann, ist klar, wird aber auf unterschiedliche Weise akzentuiert.

Christian Sundermann, Jahrgang 1955, fand sich im Ruhestand unterhalb der obersten Etage folgendermaßen vor: »Neu war die Position und Funktion, die ich hatte – eingebunden in einen Leitungsapparat wie vorher auch, jetzt aber zwei Hierarchiestufen tiefer. Dadurch nahm ich die Aufgaben von Kolleginnen und Kollegen in der Einrichtungsleitung ganz neu wahr und würdigte sie entsprechend.« (220)

Die Betagten und Hochbetagten schreiben über sich und andere – häufig in dieser Reihenfolge – und schwanken nicht selten zwischen der Überforderung durch das erreichte Pensionsalter und der Fähigkeit zur Selbstironie, zwischen Selbstverliebtheit und Selbstvergessenheit.

Volker Diehl, Jahrgang 1938, schreibt: »Im Jahr 2003 [...] musste ich auf Order der nordrhein-westfälischen Landesregierung meinen Abschied nehmen. Das fiel nicht allein mir sehr schwer, sondern auch meinen vielen Mitarbeitern – war ich für viele doch auch Leit- und Vaterfigur.« (101)

Freimut Hinsch, Jahrgang 1946, leitet sein Berufsverständnis von Martin Luther ab und führt aus: »Berufen im Sinne von aufgefordert sind wir nicht nur dazu, unsere Arbeit gut zu tun. Aufgefordert und auch verpflichtet fühle ich mich darüber hinaus dazu, meine Fähigkeiten – das, was mir mitgegeben ist auf diese Welt, und das, was ich erlernt und mir erworben habe – einzusetzen [...] Diese Verpflichtung kennt keine Altersbegrenzung. Das Spektrum dessen, was ich geben kann, kennt wenig Grenzen. Engagement kennt kein Alter und schon gar keinen Ruhestand – also Ehrenamt auch nicht.« (129)

Bernt Renzenbrink, Jahrgang 1945, Initiator des Sammelbandes und Gründer des SCSD e. V., ordnet sein Leben in biblische Perspektiven ein und beruft sich für seinen Lebensweg wiederum auf Martin Luther: »Das Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, [...] überhaupt nicht ein Wesen, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung [...].« (195)

Die biographischen Bilderbögen zeigen, wie herausfordernd der Übergang in eine neue Lebensphase ist. Das gilt in besonderem Maße für Menschen, die sich zuvor nahezu ganzheitlich an den Paradigmen der Leistungsgesellschaft orientiert und alle Ressourcen in das Dasein als leitende Persönlichkeit investiert haben.

Ernst Rommeney, Jahrgang 1951, resümiert selbstkritisch-humorvoll: »Jenseits des Berufs pflegte ich typischerweise kaum Interessen – außer Familie, Haus und Garten. Kolleginnen und Kollegen besuchten vorher Seminare, wie man gekonnt Rentner wird. Dieser Art wohlmeinende Angebote der Arbeitgeberin erlaubte ich mir zu ignorieren. Sie würden gewiss helfen, nur nicht mir.« (196)

Die Lektüre ist lehrreich, nicht nur im Blick auf das Alter, die Größe und die menschenfreundlichen Grenzen des Engagements im Ruhestand, sondern vor allem hinsichtlich des Leitungs- und Führungsverständnisses, das nicht nur in der Diakonie der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart anzutreffen ist. »Der Grat zwischen dem protestantischen Arbeitsethos und ungebremster Betriebsamkeit und Selbstausbeutung ist schmal.« (124)

Diesen Grat begehbar zu gestalten, ist die bleibende Aufgabe für künftige Generationen mit Leitungsverantwortung, damit auch in Zukunft Menschen den Ruhestand erreichen, hilfreich gestalten und sogar genießen können.