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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

881-883

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nord, Ilona u. Thomas Schlag [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Kirchen und der Populismus. Interdisziplinäre Recherchen in Gesellschaft, Religion, Medien und Politik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 312 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 59. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783374064632.

Rezensent:

Hartmann Tyrell

»Ist christliche Religion Schutzfaktor gegen oder Einfallstor für Populismus? Welche Rolle spielen christliche Kirchen innerhalb der gestiegenen Akzeptanz populistischer Bewegungen in der Gesellschaft? Diesen beiden Kernfragen wird durch theologische – darin ethische, praktisch-theologische und kirchenhistorische –, soziologische, politikwissenschaftliche, publizistische sowie kommunikationswissenschaftliche Perspektiven nachgegangen« (9). Diese Sätze stehen am Beginn der »Einführung«, die Ilona Nord und Thomas Schlag (als Herausgeber) einem Sammelband voranstellen, den in der Tat vor allem seine Multidisziplinarität auszeichnet. Von den beiden Kernfragen, die am Anfang stehen, muss man die zweite allerdings problematisch nennen; sie ist zumindest missverständlich formuliert, wenn sie von »der gestiegenen Akzeptanz populistischer Bewegungen in der (gegenwärtigen, H. T.) Gesellschaft« spricht. Ganz gewiss ist der vorgelegte Band von einem wissenschaftlichen Anliegen getragen. Aber er ist zugleich doch auch Teil eines öffentlich ausgetragenen Konflikts, der sich auch aus dem Widerspruch und Widerstand gegen »den Populismus« nährt. Keinem der Beiträge des Bandes lässt sich populismusbezogen »Akzeptanz« oder gar Sympathie nachsagen. Die Nichtakzeptanz gilt einhellig und ist ja auch die Motivgrundlage des praktisch-theologischen Engagements gewesen, das den Band mit seiner Vielfalt/Vielzahl von sechsundzwanzig Beiträgen auf den Weg gebracht hat.

Der von der Schader-Stiftung geförderte Band »versammelt Beiträge, die aus Anlass der dreitägigen Konferenz »Die Kirchen und der Populismus« vom September 2018 im Darmstädter Schader-Forum entstanden sind« (25). Die Idee hierzu entstammte einem ökumenischen Kreis praktischer Theologinnen und Theologen, dem es gemeinsam mit der Schader-Stiftung gelang, eine Reihe von Fachleuten auch anderer Disziplinen für das Tagungsvorhaben zu gewinnen; das hat sich als ausgesprochen ertragreich erwiesen. Beide Kirchen, die katholische wie die evangelische, boten ausdrückliche Rückendeckung, und mehr noch: Repräsentanten beider Kirchen nahmen auf der Tagung Stellung in Sachen Populismus. Die Herausgeber des Bandes haben noch ein Weiteres getan. Sie haben im Nachgang der Tagung eine Reihe von praktisch-theologischen Kolleginnen und Kollegen für weitere Vertiefungen, Kommentare und Beiträge gewonnen, was die lehrreiche Vielstimmigkeit des Bandes zusätzlich vermehrt hat. Die Tagungsbeobachtung, die sich im Geleitwort seitens der Schader-Stiftung mitteilt, spricht, gerade weil Dialogerwartungen im Spiel waren, vom Populismus als einem »schwierigen Gesprächsgegenstand« und fügt hinzu: »Und dies betrifft schon das Gespräch über Populismus, nicht erst das mit ›Populisten‹.« (26)

Zwei international orientierte Politikwissenschaftler eröffnen die Serie der Sachbeiträge, beide zunächst um Begriffsklärung bemüht. Für Jan Werner Müller (Princeton) ist nicht Elitenkritik, sondern »Antipluralismus« der Kern der populistischen Sache, ein Antipluralismus, der bestimmte Bevölkerungsteile aus dem »Wir« des Demos ausschließt (34). Er hat in Gegenrichtung aber auch das unselige deplorable bzw. irredeemable auf dem Bildschirm, mit dem Hillary Clinton die Trump-Wähler bedacht hat. Das religionsbezogen maßgebliche und vor allem am ungarischen Fall der »illiberalen Demokratie« illustrierte Argument des Beitrags ist mit dem Satz umrissen: »Nicht nur können Politiker Religion für ihre Zwecke nutzen; religiös inspirierte Ideologen können auch Populismus zu ihren Gunsten instrumentalisieren.« (32) Für das Letztere kommt bei Müller nicht zuletzt ein kulturkämpferischer ungarischer Bischof zu Wort. Nicht minder instruktiv ist der Beitrag von Hans-Jürgen Puhle (Frankfurt/M.). Ihm ist, was »den Populismus« angeht, nicht nur der »politische Kampfbegriff« vor Augen, weswegen er auf sparsamen Begriffsgebrauch drängt; wichtig ist ihm auch die Unterscheidung des adjektivischen Wortgebrauchs (im Sinne etwa »populistischer Rhetorik«) vom Substantiv »des Populisten« sowie ebenso des »Populismus als Protest« vom »Populismus als Projekt«. Sowohl für die Protest- wie für die Projektpopulismen stellt er – historisch breit informiert, mit Blick gerade auch auf Lateinamerika und aktuell bis an die spanische Rechtsaußen-, VOX-Partei heran – reichliche Beispielfälle zusammen. Die Kirchenfrage bleibt hier eher im Hintergrund.

Es folgen sechs empirische Beiträge mit dem Fachhintergrund von Medien- und Kommunikationswissenschaft bzw. Soziologie/Sozialwissenschaft, von denen der abschließende (Barbara Thiessen, Landshut) auch das Thema der »gender troubles« aufnimmt (131 ff.). Der Rezensent kann nicht umhin, sich hier zu beschränken. Oliver Quiring und Bernd Blöbaum (Münster) befassen sich (75 ff.) mit Fragen des Institutionenvertrauens, zumal dem kirchenbezogenen; sie tippen, aktualisierend, eingangs das Thema der »(Nicht-)Einladungen von AfD-Politikern« auf Kirchentage an (76). Erst gegen Ende des Beitrags aber liefern sie einen einschlägigen Befund: Populistisch disponierte Zeitgenossen (tendenzielle AfD-Wähler) »stehen den beiden großen christlichen Kirchen deutlich misstrauischer gegenüber als der Bevölkerungsdurchschnitt« (86). Ertragreicher zur Sache ist hier der Beitrag von Gert Pickel (Leipzig), der empirisch den Blick sowohl auf die Frage der Zugänglichkeit bzw. der Resistenz der Kirchenmitglieder gegenüber rechtspopulistisches Gedankengut richtet als auch die Frage nach religiösen Implikaten solchen Gedankenguts (in den Köpfen der Befragten). Pickel nimmt dabei Bezug auf die »europaweite Erhebung des New Yorker Think-Tanks Pew« von 2018 (92) und setzt, was den Populismus allgemein angeht, auf »Anti-Establishment-Positionen« (vom Typ »Volk versus Elite«) sowie in »rechtspopulistischer« Hinsicht vor allem auf Fremdenfeindlichkeit und, religiös akzentuiert, auf Islamophobie, abgeschwächt auf gender troubles. Das nachdenkenswerte Resultat: Christen (Protestanten wie Katholiken) machen innerhalb der deutschen Bevölkerung populismusbezogen kaum einen Unterschied. Die Kirchenmitgliedschaft kommt in den Daten allenfalls mit einer leicht stärkeren Polarisierung zwischen konservativen und »zivilgesellschaftlich engagierten« Christen zum Vorschein. An »der Religion« als einer hier wichtigen Komponente will Pickel gleichwohl festhalten: dem Rechtspopulismus ist die Rahmenerzählung vom »christlichen Abendland« (die Distanz zum Islam) nicht gut verzichtbar (104).

Müssen sich also – schon angesichts fortschreitender Säkularisierung – die Kirchen (und Kirchenleitungen) in Sachen Populismus gar nicht gesondert angesprochen fühlen? Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, und der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf zeigen sich (145 ff.151 ff.) direkt angesprochen. Beide berichten aus der an sie persönlich adressierten Briefpost, die ihnen seit 2015 in Sachen »Homosexualität, Flüchtlinge und Islam« zugegangen ist. Der Hass und die Feindseligkeit, die sich in diesen Briefen äußert, schmerzt und zwingt zum christlich gesinnten Widerspruch, zwingt dazu, solchem Rechtspopulismus »deutlich entgegenzutreten« (147). Hier ist geboten: »dass wir in allen Menschen Gottes Ebenbild sehen und dass dies die Messlatte ist für unser Denken, Reden und Handeln als Christen und als Kirche« (157). Das moralische Dilemma aber, das, konfliktsoziologisch gedacht, hier mit auftritt, sollte nicht unterschlagen werden: Die (gruppenbezogene) »Menschenfeindlichkeit«, von der populismusnah letzthin (und auch im Band) gern die Rede ist, ist selbst eine von Menschen. Und sie ist, zugespitzt gesagt, in »dem Dagegensein«, das sie moralisch auslöst, dazu angetan, die Feindlichkeit zu verdoppeln, also selbst Menschenfeindlichkeit (gegen die Menschenfeinde) zu erzeugen. Dies nicht nur in der moralisch-kämpferischen Gegenrede, sondern auch, wie zivilisiert immer, in gruppenbezogenen Negationen und Ausschließungen wie der Nichteinladung auf Kirchentage. Alle Thematisierung und Nahberührung bis in den Gottesdienst hinein wird problematisch (etwa 164 f.168). Mag man für Populisten beten? Der Beitrag von Andreas Lob-Hüdepohl (Berlin) muss hier genannt sein, weil er näher auf die hier einschlägige Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz »Dem Populismus widerstehen« eingeht (insbes. 191 ff.).

Der vielstimmige theologische, zumal praktisch-theologische Diskurs, der im vierten und fünften Teil des Bandes geführt und ausgebreitet wird, hat viel an klug geführter Argumentation und ethisch sensibler Problembehandlung zu bieten. Trotzdem darf man sagen: dieser Diskurs weicht im Grundsätzlichen nicht ab von der hierzulande »unter Gebildeten« herrschenden Meinung. Auch innerhalb des Antipopulismus kein kirchlich-theologischer Sonderklang! Die kirchensprachliche Nutzung der vieldeutigen Semantik »des Volkes« wird, weit über das »Kirchenvolk« und die »Volkskirche« hinaus, vielerorts anspruchsvoll thematisiert, und das gilt tendenziell auch für den Gegensatz, der sich auftut zwischen »dem Volk« als Kollektiv und umfassender Einheit (etwa als »Volk Gottes«) hier und »dem Volk unten« dort, das sich einer Funktionselite gegenüber befindet oder eine Herrenschicht oder herrschende Klasse über sich weiß.

Dem Soziologen fällt indes die Zurückhaltung der meisten Autoren gegenüber dem Schichtungsvokabular auf, die Hemmung nämlich, den Populismus (auch) mit der »Unterschicht« in Verbindung zu bringen, eine Hemmung, die ersichtlich eine Beißhemmung ist. Gegenüber Populisten ist die Polemik freigegeben, gegenüber »der Unterschicht« (oder auch Gruppen mit Unterschicht- oder gar Migrationshintergrund) ist sie es nicht. Umso lieber bevorzugt man es, von dem Übel »in der Mitte der Gesellschaft« zu sprechen. In dem Band kommt allerdings eine Stimme zu Wort, die abweicht und aus den hiesigen Sprachmustern auszubrechen sich bemüht. Der Beitrag von Christian Bauer (Innsbruck) ist denn auch nicht zufällig lateinamerikanisch inspiriert: von der Theologie der Befreiung im Hintergrund, im Vordergrund aber von dem Beispiel, das uns der die Berührungsnähe zum »einfachen Volk«, zu »den Armen« suchende Papst Franziskus darbietet. Hier wird (in Anführungsstrichen) die Frage gestellt, wie denn »ein […] guter kirchlicher Populismus« aussehen könnte (196 ff.). Bauer portraitiert ihn, gibt ihm den Titel »des Popularen« und spricht von der »Leutetheologie«. Deren »Minimalprogramm« ist die dreifache Devise: »vom Volk zu den Leuten«, »von der Distanz zum Kontakt«, »vom Reden zum Hören« (204). Mangelnder Platz verbietet es (auch) hier, ins Detail zu gehen. Den Rezensenten aber freut es, mit dem Blick auf ausgesprochen menschenfreundliches Gedankengut schließen zu können.