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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

878-880

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mulia, Christian

Titel/Untertitel:

Kirchenvorstandsarbeit. Dimensionen und Spannungsfelder einer spätmodernen Gemeindeleitung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 560 S. m. zahlr. Abb. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 79. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783374064267.

Rezensent:

Steffen Bauer

Die Arbeit von Christian Mulia, Professor für Gemeindepädagogik mit dem Schwerpunkt Kirchen- und Gemeindeentwicklung an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, ist 2019 als Habilitationsschrift an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz angenommen worden. Begleitet wurde sie dort von Professor Dr. Christian Fechtner. Im Vorwort drückt M. seine Hoffnung aus, dass diese empirische Arbeit einen Anstoß geben möge, »die Aufgaben der Gemeindeleitung zu reflektieren, Spannungsfelder wahrzunehmen sowie Konsequenzen für eine Förderung und Begleitung der Ehrenamtlichen zu bedenken« (5).

Schon in der Problemanzeige zu Beginn seines Werkes spricht M. von »der Marginalisierung der Kirchenvorstandsarbeit in der Praktischen Theologie« (7) und markiert damit, welche Lücke er mit seiner Untersuchung ausfüllen möchte. M. rückt mit seiner Untersuchung die Gruppe der Hochverbundenen in den Mittelpunkt, die in ehrenamtlicher Leitungsfunktion der Kirche stehen und will damit die von ihm konstatierte »Verengung des pastoraltheologischen Blickfelds« der Praktischen Theologie (25) durch Perspektiven einer Presbyterialtheologie öffnen (435). Dies gelingt ihm kenntnisreich, detailliert und aus ganz verschiedenen Perspektiven. Dabei legt er Jan Hermelinks mehrdimensionalen praktisch-theologischen Begriff von Kirche an und beschreibt so die Aspekte der Kirchenvorstandsarbeit in den Dimensionen von Institution, Organisation, Interaktion und Inszenierung. Zu jeder Dimension wird sehr umfangreiches empirisches Mate-rial dargestellt und interpretiert, um seinem eigenen Ansatz der Praktischen Theologie im Anschluss an Bernd Schröder gerecht zu werden, vom «Phänomen der Praxis her Theorie zu bilden und das Potential theologischer Wissensbestände abzurufen« (38). Formal gliedert sich seine Arbeit in drei Hauptteile: Teil A: Praktisch-Theologische Grundlegung; Teil B: Empirische Erkundungen; Teil C: Zusammenfassende Reflexionen und Praktisch-Theologische Konsequenzen, wobei Teil B den größten Abschnitt der insgesamt 560-seitigen Untersuchung ausmacht.

Mit diesem Werk liegt nun eine umfassende Beschreibung und Zusammenschau der gegenwärtigen Leitungspraxis der Kirchenvorstände vor. Dabei ist M. bei allen vier Dimensionen die Aufnahme von Erkenntnissen aus anderen Teilbereichen der Theologie bzw. aus anderen Wissenschaften wichtig. Bei »Kirche als Institution« wird z. B. die Geschichte des kirchlichen Wahlrechts nachgezeichnet. Bei »Kirche als Organisation« werden umfangreiche Erkenntnisse der Steuerungs- und Leitungstheorie aus der Organisationsentwicklung präsentiert, bei »Kirche als Interaktion« soziologische Zugänge nicht nur dargestellt, sondern jeweils auch deren theologische Aufnahme in der bisherigen Forschung wiedergegeben und diskutiert. Bei »Kirche als Interaktion« geht es nicht nur um ein Aufzeigen von kirchlichen Strategien für die Kirchenwahlen und Kirchenvorstandstage, sondern um deren Einordnung in moderne Werbe- und Marketingstrategien überhaupt. Und die Einführungsgottesdienste von Kirchenvorständen werden auch in ihrer liturgischen Bedeutung herausgearbeitet. Dieser weit gefasste Ansatz und diese umfangreiche Erarbeitung haben ihren Grund in der These, wonach sich in der Arbeit des Kirchenvorstands die Herausforderungen und Konflikte, Ambivalenzen und Widersprüche zeigen, die die Kirche als religiöse Organisation in der Spätmoderne insgesamt prägen (427). Dabei belässt es M. aber nicht bei einer detailreichen Bestandsaufnahme, sondern formuliert in Teil C kybernetische, presbyterial- und pastoral- theologische Erträge.

Dabei löst M. die Spannungsfelder, in denen sich die Arbeit und die Aufgaben der Kirchenvorstände abspielen, nicht auf, sondern redet in Aufnahme von Gedanken Kurt Lüschers der Stärkung einer Ambivalenztoleranz und einer Vermittlungskompetenz das Wort. Ausdrücklich betont er, dass in ein- und derselben Kirchenvorstandssitzung die Kirche als Institution (Einführung eines neuen Dienstsiegels), als Organisation (neue Kita-Konzeption), als Inszenierung (Planung des Reformationsgottesdienstes) und als Interaktion (gemeinsame Andacht zu Beginn) auf der Tagesordnung aufscheinen könne und es gelte, diese Ambivalenzen, also die unterschiedlichen Logiken, Interessen und Zielsetzungen bewusst wahrzunehmen. Schon hinter diesen Aussagen steht der Grundgedanke von M., wonach Kirche generell, aber eben auch der Kirchenvorstand im speziellen als »Lernende Organisation« zu begreifen sei. Ebenfalls deutlich wird aber auch in diesem Teil die Lücke, die die Praktische Theologie mit ihrer weithin einseitigen Konzentration auf die Pastoraltheologie lässt. M.s Kernthese im Blick auf die kybernetische Kompetenz von Führen und Leiten in der Kirchengemeinde besteht darin, dass die Komplexität von Leitungsprozessen zwar im Blick auf die Pfarrpersonen aufgezeigt worden sei, aber kaum oder gar nicht im Blick auf den Kirchenvorstand (472). M. streicht dagegen überzeugend heraus, dass der Kirchenvorstand neben dem Pfarramt die »einzige kirchenrechtlich fixierte und damit in jeder Kirchengemeinde öffentlich agierende Institution« sei, »die die Verantwortung der getauften Christ/innen für das kirchliche Leben anschaulich macht« (486). M. schreibt dem Kirchenvorstand damit zu, sowohl ein »institutionell abgesicherter Identitätsmarker evangelischer Existenz« wie auch »ein kritisches Korrektiv gegenüber jeglicher Zentrierung auf das Pfarramt bzw. die Hauptamtlichen« zu sein (486). Genau wegen dieser Zuschreibungen ist dieses Werk für die Praktische Theologie insgesamt wichtig. Sie führt weg von einer sehr stark auf die Pastoraltheologie ausgerichteten Praktischen Theologie und stellt sie neu vor die Aufgabe, die Rede vom Priestertum aller Getauften im Blick z. B. auf die über 100.000 ehrenamtlich tätigen Mitglieder in den Kirchenvorständen stärker in den Blick zu nehmen.

Besonders hilfreich für die weitere Diskussion scheinen mir die drei sich aus seiner Darstellung logisch ergebenden Dimensionen einer Presbyterialtheologie zu sein: Die »Theologie mittels Presbyter/innen«, die für das Selbstverständnis einer presbyterial-synodal verfassten Kirche konstitutiv ist; die »Theologie der Presbyter/innen«, denn laut M. setzen sich Kirchenvorstände stärker als andere evangelisch Engagierte mit Inhalten und Formen des christlichen Glaubens auseinander; die »Theologie für Presbyter/innen«, die auch und vor allem in der pastoralen und gemeindepädagogischen Ausbildung mit dem Ziel zu vermitteln sei, wie die Kirchen- und Gemeindebildungsprozesse vor Ort gestaltet werden können (492). Von daher kommt für ihn abschließend der Bildung, Beratung und Begleitung von Kirchenvorständen ein hoher, aber bisher ebenfalls noch nicht ausreichend beachteter Stellenwert zu.

Die vorliegende Untersuchung rückt insgesamt eine vernachlässigte Perspektive innerhalb der Praktischen Theologie ins Zentrum, ohne selbst einseitig nur auf die ehrenamtlichen Kirchenvorstandsmitglieder in ihrer Pluralität zu schauen. Das Zusammenspiel aller Mitglieder des Kirchenvorstandes kommt immer wieder zur Geltung. Interessant wird sein, inwiefern sowohl die sich gegenwärtig überall abzeichnenden verstärkten Formen der regio-lokalen Kooperationen zwischen den Gemeinden wie auch die verstärkte Bildung von multiprofessionellen Teams in Kooperations- und Nachbarschaftsräumen sich auf die von M. zu Recht aufgeführten Spannungsfelder in der Kirchenvorstandsarbeit und der Gemeindeleitung auswirken werden. Zu vermuten ist, dass die von M. betonte Stärkung und Unterstützung der ehrenamtlichen Kirchenvorstandsarbeit noch mehr an Bedeutung gewinnen dürfte. Seine Untersuchung ist auch und gerade für die gegenwärtigen Transformationsprozesse der Kirche mit großem Gewinn zu lesen.