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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

868-870

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gerhard, Volker, Leonhardt, Rochus u. Johannes Wischmeyer

Titel/Untertitel:

Friedensethik in Kriegszeiten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 184 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 9783374073375.

Rezensent:

Johannes Fischer

Der Titel des Buches weckt die Erwartung, eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit den friedensethischen Fragen anzutreffen, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgeworfen werden. Diese Erwartung wird enttäuscht. Der inhaltliche Schwerpunkt des Buches liegt darin, die friedensethischen Entwürfe Martin Luthers und Immanuel Kants in Erinnerung zu rufen, weil sie im Blick auf die Fragen der Gegenwart zu denken geben. Wird doch in ihnen mit dem Ernstfall des Krieges gerechnet.

Die Einleitung von Rochus Leonhardt, Professor für Systematische Theologie in Leipzig, umreißt die Situation der kirchlichen Friedensethik nach dem Ausbruch des Krieges. Kritisch wird dabei die vermeintliche Überwindung der Lehre vom gerechten Krieg durch das Leitbild des gerechten Friedens in den Blick genommen, und zwar als einer der Gründe dafür, dass die evangelische Friedensethik auf den Ernstfall des Krieges nicht vorbereitet war.

Der erste Beitrag »Die Friedensethik Martin Luthers. Eine historische Rekonstruktion in gegenwartsdiagnostischer Absicht« von Rochus Leonhardt ist eine subtile Analyse von Luthers Auffassungen zu Krieg und Frieden. Vorangestellt ist eine instruktive Zusammenfassung der vorreformatorischen Friedensethik (Tertullian, Augustin, Thomas von Aquin). Die Darstellung von Luthers Friedensethik, ihrer theologischen Grundlagen in der Rechtfertigungslehre, ihrer ethischen Grundlagen in der Zwei-Regimenten-Lehre sowie ihrer inhaltlichen Konkretisierung anhand von Luthers Votum zur Wurzener Fehde und anhand der Kriegsleuteschrift mündet in eine Gegenüberstellung der friedensethischen Auffassungen von Luther und Erasmus. Während für Luther »das Amt und Werk des Krieges an sich selbst recht und göttlich ist«, ist für Erasmus, obwohl er kein Pazifist gewesen ist, der Krieg etwas »Höllisches, dem Leben wie auch der Lehre Christi Fremdes«. Das gegenwartsbezogene Resümee am Ende des Beitrags bietet keine Lösung für die heutigen friedensethischen Probleme, sondern konstatiert eine »friedensethische Paradoxie«. Wer Krieg als unter bestimmten Bedingungen zulässig erachtet, der nimmt in Kauf, dass damit »Kräfte der Destruktion und Verrohung« gefördert werden, die nun einmal zum Wesen des Krieges gehören; wer Krieg für unzulässig erklärt, der nimmt in Kauf, dass sich das Recht des Stärkeren durchsetzt.

Der Beitrag »Das Neue in Kants Theorie des Friedens« von Volker Gerhardt, Professor für Philosophie in Berlin, ist eine kenntnisreiche Zusammenfassung und Kommentierung von Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«, die diese in den Gesamtzusammenhang von Kants Moral- und Rechtsphilosophie einordnet. Bezüge zu den aktuellen friedensethischen Herausforderungen durch den russischen Angriffskrieg werden nicht explizit hergestellt, aber sind an vielen Stellen implizit gegenwärtig; so in den Ausführungen zu Kants Entdeckung der Föderation als globaler, vertraglich garantierter Ordnung zwischen souveränen Staaten, die sich zum Frieden gegeneinander verpflichten, zu Kants Hochschätzung des Völkerrechts, zu seiner Auffassung, dass es ein Notwehrrecht angegriffener Staaten gibt oder zu seiner Spekulation über ein Ende des menschlichen Lebens auf Erden.

Der dritte Beitrag »Die Sorge als Maßstab. Stand und Perspektiven der evangelischen Rede von Krieg und Frieden« von Johannes Wischmeyer, dem Leiter der Abteilung »Kirchliche Handlungsfelder« bei der EKD, ist auf die friedensethische Debatte der Gegenwart bezogen. Er nimmt seinen Ausgang bei der Verlegenheit, in welche die evangelische Friedensethik durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geraten ist. In einem knappen Überblick wird nachgezeichnet, wie in der kirchlichen friedens-ethischen Diskussion der Krieg immer mehr verdrängt worden ist. Ursächlich hierfür war ein »ökumenisch etablierter Konsens«, wonach Krieg und militärische Gewalt »insgesamt und unterschiedslos« abzulehnen sind. Daher sind sie auch kein möglicher Gegenstand ethischer Klärungen. Wischmeyer erweitert dann die Perspektive über die Friedensethik hinaus auf die »evangelische Rede von Krieg und Frieden«. Denn der Auftrag der Kirche umfasst sehr viel mehr als nur die Ethik. »Der Grundimpuls kirchlicher Rede von Krieg und Frieden sollte sein: Glaubenden und Zweifelnden angesichts der verstörenden Kriegswirklichkeit dabei zu helfen, ihre Hoffnungen und Sorgen im Medium der Religion zu artikulieren.« Die Friedensethik steht in diesem umfassenderen Horizont.

In einer Zeit friedensethischer Orientierungssuche bietet dieses Buch beides: historische Vergewisserung hinsichtlich der friedens-ethischen Grundlagen und hilfreiche Denkanstöße für die Gegenwart.