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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

866-868

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Teuchert, Lisanne, Christoffersen, Mikkel Gabriel u. Dennis Dietz [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Verletzt fühlen. Systematisch-theologische Perspektiven auf den Zusammenhang von Verletzung und Emotion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. VIII, 250 S. = Religion in Philosophy and Theology, 119. Kart. EUR 74,00. ISBN 9783161616624.

Rezensent:

Peter Schüz

Als verletzliches Wesen ist der Mensch, wie die Einleitung des anzuzeigenden Bandes feststellt, »zu anderen und zur Welt hin geöffnet« (4). Sein Selbst- und Weltverhältnis ist demnach ganz wesentlich und unabweisbar durch seine Verletzlichkeit mitbestimmt. Im Bewusstsein, als Mensch verletzlich und zugleich verletzend zu sein, sind demnach grundlegende Fragen zur Anthropologie und Psychologie mitgesetzt, die sich bereits seit der Antike auch in der Religionsgeschichte und in den Frömmigkeitskulturen des Christentums niedergeschlagen haben. Sich dem Gedanken der menschlichen Vulnerabilität im Spiegel des Christentums systematisch-theologisch anzunähern, war das Ziel zweier digitaler Konferenzen aus den Jahren 2020 und 2021, deren Beiträge das Herausgeberteam im vorliegenden Band zusammengetragen hat. Die konzeptionellen Grundgedanken bewegen sich dabei letztlich auf der Schnittfläche gleich mehrerer Debattenkreise der letzten Jahre: Zu nennen ist vor allem der Diskurs zur Aktualität des geisteswissenschaftlichen Gefühlsbegriffs und seiner Bedeutung für die Theologie; man denke nur an die vielbeachteten Sammelbände zur Philosophie der Gefühle (2009) von Sabine A. Döring oder zur Theologie der Gefühle (2015) von Roderich Barth und Christopher Zarnow. Verbunden wird diese Spur hier nun mit Grundbegriffen der interdisziplinären Vulnerabilitätsforschung, die seit einiger Zeit mit Schlagwörtern wie Trauma und Resilienz in zahlreichen wissenschaftlichen Projekten bearbeitet wird und auch durch die jüngste Corona-Pandemie nochmals breitere Aufmerksamkeit gefunden hat.

Das Einleitungskapitel skizziert die konkrete Absicht des Bandes: Die versammelten Beiträge sollen Kontaktstellen der genannten Gegenwartsdiskurse ausloten (1) und dabei »den Facettenreichtum und die Interpretationsbreite des untersuchten Zusammenhangs« abbilden (2). Im Fokus stehen dabei Analysen von »Emotionen als Verletzungsreaktionen« in systematisch-theologischer Perspektive (2 f.), die mehrheitlich aus der Feder von Autorinnen und Autoren des wissenschaftlichen Nachwuchses stammen. Sogleich fällt auf, dass das Hauptaugenmerk in den meisten Beiträgen weniger auf problemgeschichtliche Grundfragen der Anthropologie in Dogmatik und Ethik, sondern auf »exemplarische Zugänge« in unterschiedlichen Einzelthemen gerichtet ist – in vielen Fällen mit Schwerpunkten im Bereich der politischen Theologie und Ethik. Im Inhaltsverzeichnis spiegelt sich dies in zwei Blöcken unterschiedlicher Größe wieder: Der erste Teil, bestehend aus drei Beiträgen, unternimmt systematische Zugänge zum Verhältnis von Emotionalität und Vulnerabilität: Ann-Kathrin Armbruster betont dabei die »Mehrdimensionalität« des Resilienzdiskurses in »Narrativen und Figurationen« (35); Hildegund Keul referiert andernorts ausführlicher publizierte Gedanken zum Vulnerabilitätsdiskurs im Gespräch mit Georges Bataille. Eine anregende, über die Grenzen der systematischen Theologie hinausgehende Spur verfolgt demgegenüber Sasja Emilie Mathiasen Stopa mit ihrer englischsprachigen Lutherrekonstruktion: Die weitreichenden Linien des Zorn-Gottes-Motivs werden hier mit frömmigkeitsgeschichtlichen Signaturen zu einer religionspsychologisch-hermeneutischen Idee ausgearbeitet, die bei Luther nicht primär im Bereich dogmatischer Eigenschaftenlehre, sondern – so die These – im Feld der religiösen Praxis liegen, hier eingekreist als »the pastoral consolatory dimension of Luther’s theology« (64). Mit klassischen Begriffen wie Trost und Demut ließen sich die hier skizzierten Motive gelebter Frömmigkeit womöglich als Paradigma einer religionshermeneutischen Deutung des Wundensymbols im Christentum weiterführen.

Der zweite, weitaus umfangreichere Teil des Buchs wendet sich sodann drei Konkretionsfeldern spezifischer Emotionen und Verletzungsreaktionen mit insgesamt sieben Beiträgen zu: Demütigung und Scham (Quast-Neulinger, Christoffersen und Springhart), Wut und Zorn (Dietz und Teuchert) und Trauer und Resignation (Gautier und Friedrich). Auch hier fällt die große Varianz der Themenzuschnitte ins Auge, die von einer »theopolitischen Relecture Marias im Licht von Hannah Arendt« über Martin Luther King Jr. bis zum »resentment«-Diskurs sowie zur US-amerikanischen politischen Theologie der Gegenwart und einer Abhandlung über »Gottes Resignieren« reicht. So anregend die einzelnen Beiträge für sich auch sein mögen, fällt es im Gesamtbild jedoch nicht leicht, das gemeinsame Thema und die übergeordneten Emotionsmotive im Blick zu behalten: sprachlich, thematisch und problemgeschichtlich bewegen sich die Beiträge auf teils sehr unterschiedlichen Ebenen und machen es der eigentlichen systematischen Annäherung an die ja letztlich im Christentum überaus reich belegte Motiv- und Begriffsgeschichte von Wunde und Verletzung nicht leicht. Vielleicht wäre hier eine ausführlichere Feldvermessung der Begriffs- und Kulturgeschichte im Gespräch mit anderen theologischen Fächern hilfreich gewesen, um durch bibelwissenschaftliche, historische, ästhetische, womöglich auch kulturwissenschaftliche und empirisch-religionssoziologische Zugänge hindurch die eigentlichen theologisch-anthropologischen und hermeneutischen Probleme des Buchthemas etwas plastischer und konkreter werden zu lassen. So bleibt die im verdienstvollen Sachregister greifbare Vielfalt überaus voraussetzungsreicher Binnendiskurse für Nicht-Spezialisten, deren Neugier vom ebenso brisanten wie offen und weit formulierten Buchtitel geweckt wurde, möglicherweise nur bedingt zugänglich. Ob und wie alte Symbole von Sünde und Sühne, Zorn, Klage, Opfer, Hoffnung und Versöhnung auch heute noch in existenziellen Lebenssituationen und emotionalen Erfahrungskonfigurationen der Verwundung und Verletzung angeeignet werden können (und seit biblischer Zeit immer schon wurden – man denke an die an Verletzungen und Wunden nicht gerade arme Frömmigkeits- und Theologiegeschichte der christlichen Konfessionen in Klang, Bild, Erzählung, Meditation, Übung, Spiel etc.), bleibt demnach noch etwas unscharf und wird durch die in manchen Beiträgen ganz ungebrochen anthropomorph verhandelten Überlegungen zu Gottes Emotionen und Verletzlichkeit nicht deutlicher.

So besteht der Gewinn der Lektüre tatsächlich, wie in der Einleitung angekündigt, in der Wahrnehmung von Vielfalt und Diversität im Bezug auf ein die Gegenwartsdiskurse bestimmendes Gefühl, dass anthropologisch zweifellos jede und jeden unbedingt angeht.