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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

865-866

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Der Sinn des Mythos in Theologie und Hermeneutik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 240 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374073924.

Rezensent:

Ulrich Körtner

Wie schon in seiner Einführung in die Evangelische Theologie (Leipzig 2021) hält Udo Schnelle auch in seinem neuen Buch ein Plädoyer für die Rehabilitierung des Mythos in Theologie und Hermeneutik. Beim Mythos gehe es »um nicht weniger als die Möglichkeiten theologischen Denkens, Erkennens und Redens« (58). Bultmanns Programm einer Entmythologisierung neutestamentlicher Rede von Gott erteilt S. einmal mehr eine Absage, auch wenn er dessen Stärken würdigt. Immerhin rege die Entmythologisierung »zur intellektuellen Selbstkontrolle der Theologie an« (51). Als »Sinnträger« (213), der das Verstehen dessen ermöglicht, »was die Welt und das Leben trägt« (230), lasse sich der Mythos gar nicht entmythologisieren, »weshalb man auf diesen vorbelasteten und missverständlichen Begriff generell verzichten sollte« (213).

Wie viele Kritiker Bultmanns setzt S. Entmythologisieren mit Eliminieren des Mythos gleich. Statt ihn zu entmythologisieren und ihn auf diese Weise zu eliminieren, gehe es darum, den Mythos zu interpretieren (212). Nun findet man bei Bultmann zwar tatsächlich Äußerungen, die auf eine Eliminierung des Mythos hinauszulaufen scheinen. Auch das Modell von mythischer Schale und gedanklichem Kern (vgl. 62) droht auf die Verzichtbarkeit mythischer Rede hinauszulaufen. Tatsächlich aber hat Bultmann doch selbst programmatisch erklärt, es können in der Theologie gerade nicht darum gehen, den Mythos zu eliminieren, sondern darum, ihn zu interpretieren. So ist denn auch der negative Begriff der Entmythologisierung nur die Kehrseite der Medaille, die den Namen existentiale Interpretation trägt. Dies weiß auch S. (55 f.), entwirft aber ein Programm zur Interpretation des Mythos, das sich als Alternative zur als defizitär eingestuften (218) existentialen Interpretation versteht.

Tillich hat Bultmanns hermeneutisches und theologisches Programm zutreffend so charakterisiert, dass es sich nicht gegen die mythologischen Vorstellungen als solche richtet, »sondern gegen die supranaturalistische Methode, die den Mythos literalistisch versteht« (zitiert bei S., 62). Schnelle hingegen argumentiert für einen theologischen Supranaturalismus. Von Gott, den Göttern oder dem Numinosen könne einzig und allein auf einer supranaturalen Sprachebene gesprochen werden, d. h. einer über die unmittelbar fassbare Natur hinausreichenden Ebene (109 f.). Auf ihr bewegt man sich »im Grenzbereich der Vernunft« (110), in dem wir es nicht mit Beschreibungen, sondern mit Deutungen der Wirklichkeit zu tun haben. Diese Sprach- und Denkebene ist für den christlichen Glauben und die ihn reflektierende Theologie unaufgebbar, weil auch das Christusgeschehen »im Kern ein durch und durch mythologisches Ereignis« bleibt, »das supranatural ist und jenseits jeder natürlichen Erfahrung liegt« (53). Auf den Punkt gebracht: »Der Mythos ist keine Form der nachösterlichen Ideenproduktion, sondern die unumgängliche, natürliche und sachgemäße supranaturale Sprachform, um die – Wissbares übersteigende Bedeutung einer Person, eines Geschehens oder einer Sache erzählerisch auszudrücken« (209 f., im Original kursiv). S. spricht auch vom »christlichen Wahrheitsprogramm« (218), das auflöse, wer den Mythos daraus ausscheide.

Seinen Mythosbegriff entwickelt S. in umfassender Auseinandersetzung mit seiner Geschichte in der neueren Theologie sowie in Philosophie, Religions- und Geschichtswissenschaft. Systematisch untersucht er das Verhältnis von Mythos, Sprache und Wirklichkeit, von Mythos, Bild, Metapher, Symbol, Ritual, Märchen, Sage, Legende und Geschichte. Man liest diese Kapitel ebenso mit großem Gewinn wie seine Rekonstruktion des frühchristlichen Mythos in den neutestamentlichen Schriften, die er im einzelnen durchgeht. Allgemein definiert S. den Mythos als »sinnstiftende Erzählung«, deren Ausgangspunkt »Erfahrungen von Menschen mit dem Numinosen/Göttlichen/Überindividuellen« sind und deren Ziel »in der Deutung dieses Erlebens« besteht (111, im Original kursiv). Soll ein historisches Ereignis, wie im Falle Jesu von Nazareth, in seinen Wirkungen über sich hinausweisen, weil Göttliches ins Spiel kommt, so muss es S. zufolge notwendigerweise eine mythische Dimension bekommen (138). S. spricht vom christlichen Mythos im Singular, dessen zentrale Grundannahme es bei der Interpretation neutstamentlicher Texte ernstzunehmen gilt: dass es »einen Gott gibt, der vor, außerhalb und unabhängig von menschlicher Zustimmung ist und wirkt; ansonsten wäre er kein Gott« (216). Der frühchristliche Mythos ist »ein Mythos mit historischem Kern« (145, vgl. 137), wobei S. auch über die »mythische Wirklichkeitserfahrung Jesu« (153) Gedanken anstellt. In den Evangelien und den übrigen Schriften des Neuen Testaments nimmt der Grundmythos aber unterschiedliche Gestalt an, wobei Paulus nicht nur als Interpret des frühchristlichen Mythos, sondern sogar als Mythenproduzent vorgestellt wird: Er »schafft [!] einen Mythos mit historischem Kern« (172).

Mit seinem Plädoyer für die Unverzichtbarkeit und Rationalität des Mythos steht S. in einer Linie mit Philosophen wie Cassirer oder Kurt Hübner. Auch sonst ist die Bedeutung des Narrativen in Theologie, Hermeneutik und Ethik in den zurückliegenden Jahrzehnten neu entdeckt und gewürdigt worden. Diese Debatte wird durch S. bereichert. Sein Supranaturalismus wirft allerdings erkenntnistheoretische und theologische Fragen auf, ebenso sein Begriff des Metaphysischen (224). Müsste nicht auch dem Erfordernis der Mythenkritik mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, statt nur affirmativ von der Unverzichtbarkeit mythischen Denkens zu sprechen?

Die Kritik des Mythos ist nicht nur eine philosophische, sondern auch eine eminent theologische Aufgabe, zumal auch Religionskritik ein wesentlicher Bestandteil christlicher Theologie ist. Die Aufgabe der Kritik beschränkt sich nicht auf religiöse Mythen, sondern hat auch säkulare Mythen und Mythenbildungen weltanschaulicher und politischer Art einzubeziehen. Mehrfach spricht S. von »erfolgreichen Mythen«, die geschichtlich überdauern, während ihre Interpretationen vergehen (114.210). Erfolg ist aber kein Ausweis von Wahrheit. Mythen, so lesen wir bei S., überliefern »altes, bewährtes Wissen« (97). Aber Anspruch und Geltung sind zweierlei, abgesehen davon, dass der zugrunde gelegte Wissensbegriff zu diskutieren wäre.

Einerseits wird dem Mythos attestiert, das Verstehen des tragenden Grundes von Welt und Leben zu ermöglichen (230), andererseits könne das, worauf sich der Mythos bezieht, »nicht wirklich verstanden werden« (221). Dass es Grenzen des Verstehens und des Sagbaren gibt, bedeutet aber nicht, dass Mythen nicht einer vernünftigen Kritik zugänglich sind. Damit wären wir bei der Frage nach Sinn und Bedeutung des Logos in Theologie und Hermeneutik, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.