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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

863-864

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lüke, Ulrich, u. Georg Souvignier [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Der Mensch – ein Tier. Und sonst? Interdisziplinäre Annäherungen. = Quaestiones disputatae, 307.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2020. 224 S. Kart. EUR 42,00. ISBN 9783451023071.

Rezensent:

Gregor Etzelmüller

Ulrich Lüke, von 2001 bis 2017 Systematischer Theologe an der Technischen Hochschule Aachen, und Georg Souvignier von der Akademie des Bistums Aachen legen einen Sammelband vor, der auf ein – wie die Lektüre zeigt – gehaltvolles, interdisziplinär angelegtes Symposium, das nach dem spezifisch Menschlichen gefragt hat, zurückgeht. Souvignier hält als Ergebnis fest: »Unbestritten ist der Mensch wie alle Lebewesen ein Produkt der Evolution […]. Biologisch betrachtet scheint der Schlüssel für den evolutionären Erfolg in der Hirnentwicklung zu liegen, insbesondere in der Ausprägung von Sprache, dem Vermögen, komplexe Wahrnehmungen vorzunehmen, und der Fähigkeit zur Selbstreflexion.« (15; vgl. Keil, 42; Wagner, 65)

Die verschiedenen Beiträge zeigen, dass die vermeintlichen Kandidaten für eine menschliche Sonderstellung immer auch Vorläufer und schwächere Varianten in der tierischen Evolution haben (vgl. Saulin/Hein, 123), wir aber zugleich im Blick auf das Ganze eine deutliche Differenz zwischen Menschen und (anderen) Tieren erkennen. Etwas wie die menschliche Sprache und Kultur als solche – einschließlich der Möglichkeit, »uns und unsere Umwelt [zu] zerstören« (Wagner, 65), gibt es im Tierreich nicht (Bolus, 98). Insofern könnte man sagen: Der Mensch steht zwar ganz und gar in evolutionärer Kontinuität (vgl. Lüke, 126), ist aber als Ganzes doch radikal von anderen Tieren unterschieden. Eine zeitgemäße Anthropologie müsste deshalb evolutionäre Kontinuität und Differenzholismus (dazu Keil, 30: Die »anthropologische Differenz [dürfte] holistischer verfasst [sein] als die klassischen Definitionsformeln vermuten lassen«), wie der im Band nicht vertretene Philosoph Matthias Jung betont, zusammendenken.

Die Konzentration auf Gehirn (vgl. Wagner, 47; Saulin/Hein, 120), Sprache (vgl. Keil, 42; Wagner, 60-64) und Vernunft (Keil, 42) steht freilich in der Gefahr, die Verkörperung des Menschen und damit auch die evolutionäre Bedeutung von körperlichen Veränderungen und nicht-sprachlichen Kommunikationsformen (Zeigegesten, Blickkontakt, Nachahmung) aus dem Blick zu verlieren.

Der Band enthält viele, spannende, auch gut zu lesende Beiträge. Gert Keil und Hermann Wagner bieten gute Annäherungen an die Fragestellung des Bandes aus philosophischer und biologischer Perspektive, Michael Bolus informiert anschaulich und präzise zugleich über drei Millionen Jahre menschliche Kulturgeschichte; Anne Saulin und Grit Hein loten äußerst sachlich das Feld der Gemeinsamkeiten und Differenzen von tierischer und menschlicher Empathie aus, Johannes von Lüpke stellt sachangemessen und verständlich Luthers Freiheitsverständnis dar und John-Dylan Haynes präsentiert eigene Forschungen, welche die berühmten Libet-Experimente weiterführen. Zugleich aber leidet der Band an der Grundschwäche aller Tagungsbände. Die verschiedenen Beiträge beziehen sich nicht aufeinander und bringen insofern die Diskussion nicht voran.

Im dritten Kapitel stehen drei völlig unterschiedliche Beiträge unverbunden nebeneinander: eine transzendentalphilosophische Reflexion auf das Vorgegebensein von Freiheit (Magnus Striet), die offen eingesteht, eine kaum überarbeitete Fassung des Vortragsmanuskripts zu sein (174), und die sich also auf keine Weise durch die anderen Vorträge hat irritieren lassen, sowie die beiden schon erwähnten Beiträge zu Luther und den Libet-Experimenten. Im besten Fall kann man die drei Beiträge als Auftakt zu einer zukünftigen Diskussion lesen, wobei man dann aber auch ehrlich sagen muss: Solche Diskussionsauftakte wurden schon mehrfach publiziert.

Sodann wirkt das dritte Kapitel als an das Buchprojekt angehängt. Obwohl Striet selbst betont: »Zunächst einmal muss das homo sapiens genannte Tier so beschrieben werden, dass es wie alles andere organische Leben aus Prozessen der Evolution stammt« (168), greift er das Thema der evolutionären Kontinuität gar nicht auf. Wer aber wirklich und mit Emphase evolutionär denkt, der müsste auch nach evolutionären Vorformen von Freiheit fragen, ohne freilich behaupten zu müssen, dass die Evolution der Freiheit deren Wesensgestalt vollständig erkläre. Auch im Blick auf Luthers These: »Im Innersten ist der Mensch seiner selbst nicht mächtig, ist er vielmehr Kräften ausgesetzt, von denen er sich bestimmen und bewegen lässt« (Lüpke, 191), hätte man im Sinne der Anlage des Buches fragen sollen, ob diese Unfreiheit des Menschen nicht auch evolutionär vorprogrammiert ist. Das Buch hätte damit Anschluss gefunden an internationale, nordamerikanische Debatten, in denen die Soziobiologie als moderne Form der Erbsündenlehre gelesen wird. Am Ende des Beitrags von Haynes wird zwar eine Diskussion von dessen Vortrag dokumentiert, aber eben keine Diskussion (wenigstens wird das für die Leser nicht sichtbar) zwischen Haynes und den anderen Autoren des Bandes.

Völlig singulär im Buch steht auch der Beitrag und die These von Ulrich Lüke, einem der beiden Herausgeber des Buches: »Der Mensch ist von da an Mensch, wo zum Ichbewusstsein bzw. kognitiven Selbstbezug eine Art Transzendenzbewusstsein z. B. in der Konkretion eines Gottes- bzw. Götterbezugs oder in dessen Leugnung hinzutritt« (136). Da diese These schon länger vorliegt (vgl. Lüke, Das Säugetier von Gottes Gnaden), hätte man den Beitrag vorweg verschicken und diskutieren lassen können. Oder bedeutet das Verschweigen dieser These in den anderen Beiträgen, dass sie interdisziplinär nicht anschlussfähig ist? Eine besondere Bedeutung spielen für die Argumentation Lükes Totenbehandlungen und Bestattungsriten. Ob diese immer schon mit der Idee eines Lebens nach dem Tode verbunden sein müssen, kann man freilich hinterfragen.

Der Band liefert weithin lesenswerte Beiträge, die zum Auftakt einer Diskussion dienen könnten. Was aus dem Band hätte werden können, erschließt sich, wenn man imaginiert, die beteiligten Kolleginnen und Kollegen hätten auf einem ersten Treffen die hier veröffentlichten Vorträge gehalten – und wären dann in einen gemeinsamen Konsultationsprozess getreten. Da es dazu leider nicht gekommen ist, bleiben die Beiträge letztlich unvermittelt nebeneinanderstehen.