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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

857-859

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Röser-Israel, Lars

Titel/Untertitel:

Verteidigung der Wahrheit. Leonhard Hutter (1563–1616) als Universitätslehrer und Kontroverstheologe.

Verlag:

Berlin u.a.: De Gruyter 2022. XII, 433 S. m. 11 Abb. und 9 Tab. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 149. Geb. EUR 102,95. ISBN 9783110756777.

Rezensent:

Walter Sparn

Dem Rezensenten ist Hutter erstmals begegnet in Gestalt der von W. Trillhaas 1961 besorgten Ausgabe des lateinischen Textes des offiziellen und weitverbreiteten Compendium locorum theologicorum (1610), dann in Gestalt des dogmenhistorischen Repertoriums, das K. Haase unter dem halb ironischen Titel Hutterus redivivus 1828 (111867) herausgab. Ob heutige Studierende J. A. Steigers lateinisch-deutsch-amerikanische Ausgabe des Compendium (2006) vor Augen bekommen? Was wissensgeschichtlich hier noch vermisst werden könnte, und überhaupt den personal- und kirchengeschichtlichen Kontext dieses »orthodoxesten aller orthodoxen [Lutheraner]«, das liefert diese bei Th. Kaufmann erarbeitete Dissertation. Sie ergibt, dass dieser malleus Calvinistarum zugleich als Vermittler und Integrator des Konkordienluthertums so agierte, und der Kollege Balthasar Meisner ihn in der Leichenpredigt als Lutherus alter pries (1).

Der gewichtige Anhang bietet eine vollständige Bibliographie der von Hutter und postum in Druck gegebenen Werke und ihrer oft vielen Auflagen: 34 Schriften, 106 Disputationen (Reihen über CA, FC, Schriftlehre, Christologie), ungedruckte Briefe, Mitschriften und Einträge (275–329). Ein vollständiges Verzeichnis der ausgewerteten theologischen Disputationen zwischen 1592 und 1627 nennt Präsides, Respondenten, Kurztitel, Themen und VD-Nachweis. Alphabetisch folgen die Respondenten (329–375) und die über 400 in diesen Jahren in Wittenberg gedruckten Kontrovers-Titel (375–389). Das erweitert die von K. Appold (2004), M. Matthias (2004) und D. Bohnert (2017) aufgebaute Kenntnis der konkreten theologischen Arbeit beträchtlich. Quellen- und Literaturverzeichnis so- wie Orts- und Personenregister fehlen nicht (391–433). Ein Abbildungsverzeichnis (425) verweist auf die diachronen Verläufe der nach Präsiden, Disziplinen, Typen und Themen aufgeschlüsselten Disputationen und auf die biographischen Daten der Respondenten. Diese quantitative Auswertung ist sehr verdienstlich.

Die Einleitung (1–18) positioniert die Arbeit von Lars Röser-Israel im Paradigma »Konfessionalisierung«, ergänzt durch »Konfessionskultur«, und platziert Hutter in der Wittenberger Theologenausbildung und in der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte, zu der auch Philosophen, Juristen und Politiker gehörten. Der Name »Hutter« wird verifiziert. Die (heuristischen) Termini für Gruppen und Netzwerke werden sortiert in solche ohne Markierung (Lutheraner, Reformierte, Katholiken) und solche, die pejorativ gebraucht wurden (»Calvinisten«, »Philippisten«, »Papisten«). Es folgt Biographisches (19–43) zum Pfarrersohn, der in Straßburg das Studium begann und dann als Präzeptor für Ulmer Patriziersöhne in Tübingen, Basel, Heidelberg (wg. Pest), Jena, Leipzig, Straßburg und wieder in Jena studierte, wo er 1593 den theologischen Doktorgrad erwarb. Die wiederholte Berufung nach Straßburg scheiterte, die nach Wittenberg auf die cathedra Lutheri war erfolgreich trotz des für Hutter erforderlichen Verzichts auf das Predigtamt, das regulär damit verbunden war; worin die physische Behinderung Hutters bestand, der auch kinderlos blieb, hat auch R.-I. nicht herausfinden können (32 f.). Der Überblick über Hutters akademische Tätigkeit räumt u. a. mit dem Klischee des radikalen Bruchs mit Melanchthon auf: Auch nach 1592 war Hutters Professur mit der Vorlesung über Melanchthons Loci betraut, seit 1606 alternierend mit einer über die Konkordienformel, über die Hutter seit 1603 ein Privatkolleg mit Disputationen gehalten hatte. Auf Melanchthons Grundlage also las er Dogmatik 1596–1602 und 1605–1615. Sein von Fakultät bzw. Kurfürst in Auftrag gegebenes und approbiertes Compendium nimmt denn auch positiv und namentlich auf Melanchthons »System« Bezug, das er von Fall zu Fall aus der FC korrigiert. Seine Loci communes theologici (1619) sind eine postume Edition seiner zweiten Melanchthon-Vorlesung.

Der erste Hauptteil (3. Gelehrtes Luthertum, 44–160) kontextualisiert Hutters akademische Lehre im Profil der Wittenberger Fakultät und ihres Disputationswesens im Zuge der (konkordien-)lutherischen Konfessionalisierung seit 1592. Das bestätigt hier die konsensbildende Funktion der Arbeitsform Disputation (K. Appold), erbringt aber auch Präzisierungen und perspektivische Korrekturen (3.1–3, 44–104). Den Disputationen Hutters, speziell denen über die Heilige Schrift als Prinzip der Theologie, schreibt R.-I. methodische Innovation zu, die sich dem wissenschaftstheoretischen Aristotelismus verdankten. Hutter berührt diesen nur am Rande und setzt, auch im Compendium, auch die seit G. Major artikulierte lutherische Schriftlehre fort. R.-I. stellt aber fest, dass die Verknüpfung der Schrift als dogmatisches Prinzip und als Predigttext, d. h. als Gesetz und Evangelium, bei Hutter nicht mehr gelingt (Kap. 3.4–5, 105–160), symptomatisch auch für die lutherische Orthodoxie. Letzterem muss der Rezensent widersprechen, zumal gerade die Wittenberger Kollegen verstanden, dass die Theologie, wie Hut- ter auch weiß, in erster Linie exegetisch arbeitet und daher das Schriftprinzip philologisch, hermeneutisch und homiletisch zur Geltung brachten. Anders als B. Meisner, F. Balduin, W. Franz nahm Hutter, wie R.-I. beiläufig bemerkt (42 f.), am Predigtamt nur mit samstäglichen Vorlesungen zur Sonntagsperikope, laudationes funebres und Homilien zur Passionsgeschichte teil. Hier wären Hutters Summarien in seiner Ausgabe von Luthers Bibel-übersetzung (1606, bis 1736) der Aufmerksamkeit wert gewesen.

Der zweite Hauptteil (4. Kontroverses Luthertum, 161–268) widmet sich Hutters Konsolidierung des Konkordienluthertums nach außen. Sie wurde dringlich wegen der um die Prädestinationslehre verschärften Konfrontation mit den angeblichen Augsburger Religionsverwandten, den Reformierten, und mit der tridentinischen Theologie (R. Bellarmini SJ, J. Gretser SJ, missglücktes Religionsgespräch in Regensburg 1601). Dringlich war die kontroverstheologische Selbstbehauptung auch angesichts der dramatischen religionspolitischen Situation, die R.-I. zurecht auf der Ebene des Reiches und der zu einer »Zweiten Reformation« fortschreitenden Territorien anspricht (4.1, 161–181). Im Kontext Wittenberger Christologie, die sich durch A. Chandieu herausgefordert sah (4.2, 182–205), wird die erneut strittige Deutung der Kirchengeschichte konzentriert auf Rudolf Hospinians Concordia discors (1607) und Hutters Concordia concors (1614). Hutter versteht die FC als Vergewisserung der Lehre Luthers und der CA und sucht die Spannung zwischen der Tübinger und der Gießener Christologie zu vermitteln (4.3, 206–249). Dem auch hier des Betrugs verdächtigten reformierten Friedensangebot widersetzte sich Hutter mehrmals, zuletzt im Irenicum vere Christianum (1616) dem Irenicum (1614) des Heidelberger David Pareus. R.-I. stellt fest, dass beide Schriften nicht über Kontroverstheologie hinauskamen, und stellt Hutters Intervention in die reale Bedrohung des Luthertums in Schleswig-Holstein-Gottorf, Hessen-Kassel und Brandenburg in den Vordergrund. Allerdings scheiterte Hutters Versuch, den religionspolitischen Einfluss reformierter Räte als »machiavellistische Fallstricke« zu disqualifizieren, aber zugleich den Vorrang der religiösen Wahrheit vor dem Religionsfrieden zu behaupten (Calvinista Aulico-Politicus, 1609; 1614) – andere Wittenberger argumentierten in solchen Fällen deutlich realistischer (4.4, 249–268).

Das Fazit (269–274) dieser wichtigen, theologiedidaktisch und religionspolitisch wohlinformierten Darstellung eines unbeirrten Konkordienlutheraners rückt dessen Kontroverstheologie vielleicht zu nahe an das Szenario »Markt«, betont aber angemessen die Begrenztheit und die Ambivalenzen dieser bedrohungsfixierten Denkform. Hutter war in seiner enormen kontroverstheologischen, aber sehr geringen bibelhermeneutischen Produktivität vermutlich weniger repräsentativ für die lutherische Orthodoxie, als R.-I. wohl meint.