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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

854-856

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Adler, Hans, von Essen, Gesa, u. Werner Frick (Hgg.)

Titel/Untertitel:

Der ›andere Klassiker‹. Johann Gottfried Herder und die Weimarer Konstellation um 1800.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2022. 385 S. = Schriftenreihe des Zentrums für Klassikforschung, 6. Geb. EUR 58,00. ISBN 9783835350526.

Rezensent:

Martin Ohst

Seit einer Reihe von Jahren hat sich die kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung zur Aufklärungszeit quantitativ wie qualitativ erfreulich gesteigert. Zwei Schwerpunkte des Interesses treten deutlich hervor: Intensiv werden einmal die zu Immanuel Kant hinführenden Linien verfolgt, auch er selbst und dann seine Wirkungen im Deutschen Idealismus und bei Schleiermacher ziehen immer neue Bearbeitungen auf sich. Sodann erfreut sich die Neologie, also die zentrale Gestalt deutscher protestantischer Aufklärungstheologie, einer Aufmerksamkeit, die auch die verengende Konzentration auf deren wichtigsten Protagonisten, J. S. Semler, aufgebrochen und überwunden hat. Im Schatten allerdings steht weiterhin, wie seit langem, Johann Gottfried Herder. Noch unlängst wurde die »kaum zu verstehende […] Vernachlässigung Herders von Seiten der Theologie« beklagt (Claas Cordemann, Herders christlicher Monismus, Tübingen 2010, 2). Aber dieses Verdikt gilt nur cum grano salis.

Wie einst Otto Baumgarten und Horst Stephan, so vertreten heutigentags Christoph Bultmann und Martin Keßler die Evangelische Theologie ausdauernd und produktiv in der Herder-Forschung – auch in dem hier anzuzeigenden Sammelband, der eine Tagung dokumentiert, die 2016 in Weimar stattgefunden hat. Bultmann (Herder über »natürliche Religion« und die Pluralität der Religionen, 233–255) zeigt, wie der späte Herder Seite an Seite mit seinem einstigen literarischen Gegner Johann Joachim Spalding an einem anthropologisch fundierten Konzept von Religion festhielt und sein Verständnis der christlichen Religion hier anschloss: Er verstand Jesus als denjenigen, der die eine, wahre, in sich vernünftig-evidente Religion wirksam verkörpert hat. Zugunsten dieser, traditionell gesprochen, auf das munus propheticum konzentrierten Christologie verabschiedete Herder das munus sacerdotale mit der Versöhnungslehre als exklusiv christlich-kirchliches Spezifikum. Es blieb allerdings, wie Bultmann durch einen vergleichenden Seitenblick auf Lessing moniert, ein Defizit: »Das Problem der jeweiligen und jeweils exklusiven Wahrheitsansprüche der drei Religionen lässt Herder unangesprochen liegen.« (253) Keßler stellt in einer detailreichen und kurzweiligen Studie »Weimarer Orte der Herder-Erinnerung: Kirche – Wohnhaus – Grab« vor (301–329). Gestützt auf Herders Korrespondenz sowie Berichte und Dokumente (s. das Faksimile von Goethes ausführlich kommentierter Grundriss-Skizze von Herders [zukünftigem] Wohn- und Dienstsitz 309!) erhellt er die Lebenswelt des beruflich wohl am heftigsten Beanspruchten unter den »Weimarer Klassikern«. Der Bericht über die von den Eheleuten Herder durchgängig als prekär beklagte Wohnsituation spiegelt lebhaft die Freuden und Kalamitäten einer großen, lebhaften Familie wider, deren Ernährer einem Gutteil seiner Erwerbsarbeit zu Hause nachging. Frömmigkeits- bzw. mentalitätsgeschichtlich signifikant ist die beiläufige Notiz, dass Herder allabendlich im Bett in Johann Arndts »Sechs Büchern vom Wahren Christentum« zu lesen pflegte (317). – Direkt neben dem Wohnhaus stand und steht die Stadtkirche St. Peter und Paul, Luthers Predigtstätte bei seinen Aufenthalten in Weimar. Hier hielt Herder im festen Turnus Sonn-, Feiertags- und Wochengottesdienste. Über leere Kirchenbänke hatte er nicht zu klagen, allerdings umso lebhafter über das ungehobelte Benehmen der Hörergemeinde (306). Das war in der extra muros gelegenen, von ihm auch als Bauwerk sehr geschätzten Jakobskirche anders; dennoch hielt der Generalsuperintendent an der Stadtkirche als Hauptort seiner Predigtwirksamkeit fest: »In ihr sprach Herder nicht nur zur Gemeinde, […], sondern auch zu den Einwohnern der Stadt in ihrer standesübergreifenden Einheit.« (307) Er wusste also das zu schätzen, was man späterhin, als es schon dahinschwand, mit dem Begriff der »Volkskirche« beschwor. – In der Stadtkirche liegt Herder auch begraben. Für die sich in den Schwanz beißende Schlange auf der Grabplatte, die von Herders Petschaft übernommen ist, notiert Keßler mehrere Deutungsvarianten, unter denen die (mir bislang geläufige) auf ein freimaurerisches Symbol fehlt (328 mit Anm. 120; s. auch 326 mit Anm. 114). Diese beiden Beiträge werden vorwiegend bei Lesern auf Interesse stoßen, die schon mit Herder vertraut sind. Neben ihnen seien zwei Beiträge näher vorgestellt, die Herder als einen Denker thematisieren, der gerade gegenwärtig mehr als nur ein rein historisches Interesse auf sich ziehen sollte.

Daniel Fulda (Erziehung des Menschengeschlechts. Der Geschichtsdenker Herder – ein Klassiker des Historismus? [115–142]) profiliert plastisch die Konturen von Herders Variante der Metapher von der »Erziehung des Menschengeschlechts«; besonders erhellend ist der die theologischen Implikationen betreffende Vergleich mit Lessing: »Gott und Mensch bleiben für Herder dauerhaft einander zugeordnet und nicht nur für eine begrenzte Lehrzeit.« (130) Die als Untertitel seines Beitrags fungierende Frage beantwortet Fulda mit Emphase positiv: Sicher, die Klassiker des Historismus, Ranke und Droysen, haben sich kaum je positiv auf Herder berufen. Nichtsdestotrotz liegen in ihren geschichtstheoretischen Überlegungen Herders – wie auch immer im einzelnen vermittelte – Einflüsse offen am Tage, und so bezeugen sie den Sachgehalt eines vielzitierten späten Goethe-Dictums, gemäß dem die Fülle der sachlichen Rezeptionen die Erinnerung an Herders Werk gleichsam unter sich begraben habe (120 mit Anm. 14; vgl. auch 331 mit Anm. 1). Droysen und Ranke sind als Erben Herders anzusprechen, weil und sofern sie zugleich den inkommensurablen Eigenwert und das unveräußerliche Eigenrecht aller Formationen menschlichen Lebens betonten und sie dennoch in übergeordnete Verlaufszusammenhänge einordneten. Beide übernahmen zudem von Herder eine kulturalistische Auffassung von Religion als einem für das Verständnis geschichtlicher Lebensformationen unentbehrlichen Faktor, aber auch eine jeweils unterschiedlich ausgebildete religiöse Grundierung ihres Begriffs von Geschichte insgesamt; der Gottesgedanke fungierte als »Variante des genuin wissenschaftlichen Strebens nach Totalität der Erkenntnis oder genauer: dessen letzte Konsequenz« (136).

Es zeichnete Herders Geschichtsdenken aus, dass er die phylogenetische Großperspektive der Erziehung bzw. Bildung des Menschengeschlechts durch den Hinweis darauf ergänzte bzw. brach, dass sich dieser Bildungsprozess immer auch am Ort des Individuums je neu vollzieht: Jedes Individuum rekapituliert auf seine eigene Weise die Geschichte der Gattung. Wenn man das verstanden hat, zerbricht das Zutrauen zu geradlinig-teleologischen Denk- und Deutungsschemata, und das heißt: Jede Formation menschlich-geschichtlichen Lebens ist in sich selbstzweckhaft; keine ist jeweils allein Mittel zum Zweck der Entstehung einer folgenden, scheinbar oder tatsächlich höheren. Diese Einsicht hat dann ihre religiöse bzw. theologische Entsprechung: »Denn Herders Gott ist kein Präzeptor des Menschengeschlechts, der einen Lehrplan abarbeitet, sondern erfreut sich am Selbst-Lernen der unendlich vielen Einzelnen: ›in jedem seiner Kinder liebet und fühlt er sich mit dem Vatergefühl, als ob dieses Geschöpf das Einzige seiner Welt wäre‹.« (129) Diese scheinbar naiv-gegenständliche Rede von Gott hat bei Herder ihr Widerlager in dem, was man schlagwortartig als seinen »Spinozismus« zu bezeichnen pflegt.

»Herders Weimarer Konzept der Selbstbildung«, das Rainer Wisbert kraftvoll präsentiert (257–278), lässt sich als Variation über die Leitmotive seiner geschichtsphilosophischen Denkarbeit lesen. Weit ausholend ruft Wisbert zunächst die Geschichte des Bildungsgedankens und -begriffs seit der Antike in Erinnerung. Dabei stört die allzu glatte Einordnung Luthers in die humanistische Bildungs- und Erziehungsbewegung (260). Wenn man hier tie- fer gräbt, wie es jüngst geschehen ist (s. Angelika Michael, »Quod Christus sit mea forma«. Zur Bedeutung des Wortfeldes forma/formari in der Rechtfertigungslehre Martin Luthers, in: Lutherjahrbuch 89/2022, 14–47), tun sich Befunde auf, die auch dazu anregen dürften, noch einmal intensiv über Herders Herkunft aus dem lutherischen Pietismus seiner ostpreußischen Heimat nachzudenken. Herders Bildungsbegriff ist nicht individualistisch verengt, sondern fasst den Einzelnen in seinen gegebenen sozialen Bezügen ins Auge (»außerhalb der Geschichte kann es keine persönliche Entfaltung geben«, 268), und das führt ihn zur programmatisch-diagnostischen Rede von der »Nationalkultur«, einem »Emanzipationsprojekt«, denn es »erfordert die Gleichberechtigung aller zu Selbstentfaltung, Mitarbeit und Mitsprache und stellt gleichsam in der Sphäre der Kultur allen ein republikanisches Modell vor Augen« (263). All das ist nur realisierbar durch die Arbeit mit und an individuellen Menschen. Deren Gottebenbildlichkeit versteht Herder als dynamische Potentialität: »Jeder einzelne Mensch hat damit den Auftrag, sich auf individuelle Weise an der Enträtselung des Göttlichen zu beteiligen und eine je eigene Spiegelung des göttlichen Spiegels zur Darstellung zu bringen« (267); hier ist in der Tat einer der Leitgedanken von Schleiermachers »Monologen« präformiert (276). Die Wirkungsgeschichte dieser Gedanken, die Wisbert andeutet, ist exorbitant und reicht bis in die gegenwärtigen Tagesaktualitäten (277: Edward Said!). Auch die anderen Aufsätze des Bandes sind sehr lesenswert: Das gilt für die einleitende Studie (Gesa von Essen/Werner Frick, »Katzbalgereien«. Herder im Wechselspiel mit Goethe und Schiller, 29–74) ebenso wie für Studien über seine Stellung in den politischen und ästhetischen Debatten seiner Zeit sowie die Orte und Felder seiner Amtstätigkeit.