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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

848-849

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Vogler, Günter

Titel/Untertitel:

Müntzerbild und Müntzerforschung vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Band 2: 1789 bis 2017.

Verlag:

Berlin: Weidler Buchverlag 2021. 550 S. EUR 75,00. ISBN 9783896937544.

Rezensent:

Stefan Michel

Thomas Müntzer gehört zu den umstrittensten Personen der Kirchen- bzw. deutschen Geschichte, der von den Wittenberger Reformatoren als »Schwärmer« geschmäht und vor allem im 20. Jh. durch die marxistische Geschichtsdeutung in allgemeines Bewusstsein gerückt wurde. Wie nähert man sich einer solchen historischen Person, die wiederkehrend Anlass zu Diskussionen bot? Der renommierte Historiker Günter Vogler verfasste dazu eine gelehrte Untersuchung in Form einer zweibändigen Forschungsgeschichte, in der er auf der Grundlage sorgfältiger bibliographischer Recherchen den Wandlungen des Müntzerbildes und der Müntzerforschung seit dem 16. Jh. nachging. Sein Darstellungszeitraum und seine Darstellungstiefe gehen deutlich über die Studie von Max Steinmetz »Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels« von 1971 hinaus. Auch wählte er einen anderen Zugang als William Hammer, der mit »Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte« (4 Bde., 1967–1996) »ein beschreibendes Verzeichnis« vorlegte. Nachdem 2019 der erste Band dieser Darstellung bis 1789 erschien (vgl. ThLZ 145 [2020], 323–325), folgte 2021 der zweite Band mit einer Diskussion der Publikationen von 1789 bis 2017.

Waren die bisherigen Annäherungen an Müntzer vielfach durch die polemischen Darstellungen Martin Luthers, Philipp Melanchthons und Johann Agricolas tendenziell gefärbt, setzte im 18. Jh. eine Neubewertung des Theologen ein, die durch eine Auseinandersetzung mit den Quellen und neuen Fragestellungen herbeigeführt wurde. V. setzt bei den »Konturen des Müntzerbildes seit 1789«, also den Geschichtsdarstellungen im Gefolge der Französischen Revolution, ein (15–54). Nicht nur kam es durch die Erfahrung dieser Revolution zu vorsichtigen Neubewertungen des Bauernkriegs, sondern auch zu ersten biographischen Darstellungen Müntzers, so 1795 durch Georg Theodor Strobel. Bis hin in volksaufklärerische Schriften erfolgte die Auseinandersetzung mit Müntzer, so dass um 1800 ein großes Meinungsspektrum vorlag, das nicht frei von Stereotypen ist. Müntzer diente nach wie vor als Abschreckung vor einer zügellosen Revolution.

Einen Einschnitt in der Betrachtungsweise sieht V. nach 1830 als Folge der französischen Julirevolution (55–98). Der Revolutionär Müntzer konnte nun auch positiv wahrgenommen werden, weil er sich für Reformen einer verkrusteten Gesellschaft eingesetzt hatte. Neben neuen biographischen Versuchen – z. B. 1843 von Johann Karl Seidemann – entstanden Darstellungen des Bauernkriegs, unter denen die von Wilhelm Zimmermann aus den Jahren von 1841 bis 1843 an Bedeutung deutlich heraussticht, weil sie als Quelle für weitere Darstellungen – z. B. für Friedrich Engels – bis weit ins 20. Jh. diente.

Unter der Überschrift »Das Gespenst des Kommunismus« versammelt V. im dritten Kapitel Urteile »der Sozialisten und ihrer Kritiker« (99–140). Hier kommt auch die Betrachtung Engels unter den »Vertretern der Arbeiterbewegung« zu stehen. Zudem zeigt V. die Wirkung der Darstellung Zimmermanns durch die wohlfeile Volksausgabe. In dieser Zeit nach 1848 bis ins frühe 20. Jh. kam es durch eher regionale Forschungen z. B. durch Otto Clemen oder Paul Wappler zu kleinen Zuwächsen historischen Wissens über Müntzer. Große Darstellungen, insbesondere seiner Theologie, fehlten, weil die verschiedenen Zugänge zu seinem Werk nicht zusammengedacht wurden.

Dass Müntzer »als Theologe ernst zu nehmen« ist, unterstrichen die »weltanschauliche[n] Debatten« der 1920er Jahre (141–177). In die Zeit nach dem Umbruch von 1918 gehören nicht nur die Arbeiten Hugo Balls oder Ernst Blochs, sondern auch die Karl Holls und Heinrich Boehmers. Diese Namen illustrieren die konkurrierenden Sichtweisen auf den ehemaligen Bauernführer, die verschiedene Forschungen zu Leben und Werk Müntzers anregten.

1925 jährten sich Bauernkrieg und Müntzers Todestags zum 400. Mal, an die religiöse Sozialisten, Bauern und Arbeiter, Sozial-demokraten und Kommunisten erinnerten (179–219). Vor allem die Bauernkriegsforschung (z. B. Günther Franz) wurde nach 1925 intensiviert. Zudem wurde das Bedürfnis nach einer neuen Sammlung von Quellen Müntzers deutlich.

Die Folgen des Jubiläumsjahres stellt Vogler im sechsten Kapitel »Was bleibt von Müntzers Bewegung?« vor (221–254). Dazu gehört seine Wahrnehmung als eigenständiger Theologe, als Sozialkritiker, aber auch als eine Person, die vereinzelt von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde.

Eine entscheidende Wende in der Beschäftigung mit dem radikalen Reformator setzte nach 1945 ein, die durch konkurrierende Forschungen in der DDR und der Bundesrepublik einerseits (291–334), aber auch von Theologen und marxistischen Historikern innerhalb der DDR anderseits geprägt war (255–289). Für Diskussionen sorgten in dieser Zeit zunächst die Veröffentlichungen von Moisej Mendelejic Smirin und Carl Hinrichs, später von Max Steinwetz und Walter Elliger. Viele weitere Veröffentlichungen bespricht V. kenntnisreich.

Deutlich veränderte sich die Lage durch das Bauernkriegsgedenken von 1975 (335–374) und den 500. Geburtstag Müntzers, der 1989 begangen wurde (375–414). Der Austausch zwischen Ost und West sowie marxistischer Geschichtswissenschaft und Theologie wurde durch diese Jubiläen vertieft und führte zu einem besseren Verständnis Müntzers. Daran waren zahlreiche Forscher beteiligt, stellvertretend seien Siegfried Bräuer und V. selbst genannt.

Nach 1990 wurde es still um Müntzer, weil das politische Interesse an diesem Reformator durch das Ende der DDR erloschen war (415–466). Trotzdem konnten große gemeinsame Forschungsergebnisse vorgelegt werden, zu denen die dreibändige Müntzerausgabe (2004–2017) oder die Müntzerbiographie von Bräuer und V. aus dem Jahr 2016 (vgl. ThLZ 141 [2016], 1232 f.) gehören.

Ein zwölftes Kapitel fasst die Linien des Bandes prägnant zusammen (467–480). In einem Anhang lässt V. den Text der Resolution der UNESCO von 1987 abdrucken (481), die im Hinblick auf das Müntzergedenken von 1989 verabschiedet wurde. Ein Literaturverzeichnis (483–540) und drei Register der Personen, Aufenthaltsorte Müntzers und ausgewählter Begriffe beschließen das Buch (541–550).

Was für ein Buch hat V. vorgelegt? Ist es ein Handbuch der Müntzerforschung oder ein Nachschlagewerk? Das ist schwer zu entscheiden. Das Ziel des Buches war es, einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte, Tendenzen und Wandlungen des Müntzerbildes und »eine Art Lesebuch« vorzulegen (11). Diese drei Anliegen hat V. erreicht. Doch das Buch bietet zugleich Anregung für zukünftige Forschungen zu Müntzer (480): Sicherlich ist es auf der Grundlage der Darstellung V.s leichter, die Themen zu finden, »welche strittig sind und weiterer Klärung bedürfen und welche bisher vernachlässigt wurden und erst noch bearbeitet werden müssen«. Insofern liest man V.s Buch mit großem Gewinn und benutzt es dankbar als großes Alterswerk eines bedeutenden Müntzerforschers.