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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

842-845

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bullinger, Heinrich

Titel/Untertitel:

Briefe von April bis Dezember 1547. Anhang: Neue Briefe aus den Jahren 1523 bis 1546. Hgg. v. R. Bodenmann, Y. Häfner, J. Steiniger.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2022. 808 S. = Heinrich Bullinger Werke. Zweite Abt.: Briefwechsel, 20. Lw. EUR 180,00. ISBN 9783290183547.

Rezensent:

Stefan Michel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bullinger, Heinrich: Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen. Hebräerbrief – Katholische Briefe. Hgg. v. L. Baschera. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019. 524 S. = Heinrich Bullinger Werke. Dritte Abt.: Theologische Schriften, 9. Lw. EUR 160,00. ISBN 9783290181987.
Bullinger, Heinrich: Briefe von Januar bis März 1547. Hgg. v. R. Bodenmann, A. Kess, J. Steiniger. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019. 496 S. = Heinrich Bullinger Werke. Zweite Abt.: Briefwechsel, 19. Lw. EUR 160,00. ISBN 9783290181864.


Seit Jahrzehnten arbeitet man in Zürich rasch und solide an der Herausgabe der Werke des Reformators Heinrich Bullinger. 2019 erschienen gleich zwei neue Bände des großen Editionsvorhabens! 2022 folgte schließlich der auf absehbare Zeit letzte gedruckte Band des Bullinger-Briefwechsels (HBBW), womit nun insgesamt 368 Briefe für das Jahr 1547 zugänglich sind. Grundsätzlich ist Edieren ein mühseliges Geschäft, das ein Wissenschaftler oder eine Wis- senschaftlerin oft in Einsamkeit absolviert. Man stellt der Forschung notwendige Quellen in einer erschlossenen und kommentierten Form zur Verfügung, häufig ohne selbst diese Quellen auswerten zu können. Deshalb kann man den Zürcher Kolleginnen und Kollegen gar nicht dankbar genug für diese unermüdliche Leitung sein.

Nachdem in den Jahren 2012 (Röm, 1Kor und 2Kor), 2014 (Gal, Eph, Phil und Kol) und 2015 (1–2Thess, 1–2Tim, Tit und Phlm) die ersten Bände des aus Bullingers Feder stammenden Kommentarwerks zu den neutestamentlichen Briefen durch Luca Baschera (Bd. III/8 gemeinsam mit Christian Moser) als moderne Edition vorgelegt werden konnten, folgt nun der vierte Band, der die Kommentierung zum Hebräerbrief und den Katholischen Briefen bietet. Damit ist die Edition der Briefkommentare abgeschlossen. Diese von Luca Baschera besorgte Edition ist unbedingt notwendig, weil Bullingers lateinisches Kommentarwerk, das 1537 erstmals in einer Gesamtausgabe erschien, weite Verbreitung in allen exegetisch interessierten Kreisen des 16. Jh.s erlangte. In der instruktiven Einleitung des Editors (IX–XXX) legt Baschera die Druck- und Textgeschichte der Kommentare Bullingers dar. Der Edition wurden die Erstauflagen zu Grunde gelegt, im Apparat wird auf die Gesamtausgabe verwiesen. Zuerst kommt der Kommentar zum Hebräerbrief von 1532 (1–172) zum Abdruck, gefolgt von den Kommentaren zu den Petrusbriefen von 1534 (173–306), dem 1. Johannesbrief von 1532 (307–370), dem Jakobus-, zweiten und dritten Johannesbrief sowie dem Judasbrief von 1537 (371–452). Wie bei den anderen Kommentaren predigte Bullinger vor der Kommentierung über diese Schriften. Den Hebräerbriefkommentar widmete Bullinger Landgraf Philipp von Hessen, den er als einen Verteidiger der Zürcher Reformation ansah. Diese Widmung verwundert nach der Katastrophe von Kappel wohl kaum, da Zürich dringend politische Unterstützung brauchte. Die Widmung des Kommentars der Petrusbriefe geht allgemein an »alle Brüder, die in Deutschland um Christi und des Evangeliums willen unterdrückt und vertrieben sind«. Damit meint er dem Thema des ersten Petrusbriefes gerecht zu werden, in dem es unter anderem um die Mahnung zur Geduld geht. Der fortlaufenden Kommentierung legte Bullinger den Text des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam zu Grunde, den er durch eigenständige philologische Arbeit ergänzte. Regelmäßig verglich er die Annotationes des Erasmus. Am Anfang der Kommentierung steht jeweils ein Argumentum mit den Hauptthemen der jeweiligen Briefe. Exkurse, wie in anderen Kommentaren, fügt Bullinger nicht ein. Auch wenn Luthers Name im Personenregister kaum genannt wird, waren seine exegetischen Arbeiten für Bullingers Auslegung vor allem der Petrusbriefe wohl in der Straßburger Ausgabe von 1524 als Referenz wichtig. Johannes Bugenhagens Kommentar zum Hebräerbrief erwähnt Bullinger zwar nicht, scheint ihn aber gekannt zu haben. Zur Kommentierung des Jakobusbriefs konsultierte Bullinger Zwinglis Auslegung. Großer Raum der kritischen Texterschließung durch Baschera in Form von Kommentaren und Nachweisen wird den von Bullinger benutzten Quellen gewidmet, zu denen Kirchenvätertexte (besonders Chrysostomos, Tertullian und Augustinus) und antike Autoren gehörten. Ein Register über Bibelstellen, Quellen, Personen und Orte beschließt den Band (467–494). Wie bei den Vorgängerbänden wurde der sorgfältig erarbeiteten Druckausgabe eine identische elektronische Ausgabe als CD-Rom beigegeben, die eine gezielte Suche ermöglicht. Zu wünschen wäre, dass in absehbarer Zeit noch der Kommentar zur Apostelgeschichte erscheint.

Band 19 des HBBW bietet – bearbeitet durch das bewährte Team von Reinhard Bodenmann, Alexandra Kess und Judith Steiniger – 137 Briefe, die aus dem kurzen Zeitraum von Januar bis März 1547 überliefert sind, unter denen lediglich 24 von Bullinger selbst stammen. Eine wie seit Band 14 gewohnt gelehrte Einleitung Reinhard Bodenmanns verweist auf wichtige Punkte der Edition und der daraus gewonnenen Erkenntnisse (13–57). Die Bearbeiter gehen davon aus, dass Bullinger einige Briefe von seinen Briefpartnern zurück erbat, um sie zu vernichten (18). Zudem ist der Anteil an deutschen Briefen mit 51 recht hoch. Die Briefe stammen von 46 Briefpartnern aus 18 Orten. Am häufigsten fand der Austausch mit Konstanz – 39 Briefe – und Augsburg – 23 Briefe – statt. Dies verwundert wenig, wenn man an die historischen Ereignisse des Frühjahrs 1547 denkt: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen zog mit seinem Heer aus Süddeutschland ab, um im Schmalkaldischen Krieg in Mitteldeutschland gegen Moritz von Sachsen zu kämpfen. Daraufhin verschlechterte sich die Lage der süddeutschen Städte, die zum Schmalkaldischen Bund gehört hatten, gegenüber Kaiser Karl V. Sie waren seiner militärischen Übermacht nun schutzlos ausgeliefert. Zuerst gab es Verhandlungen in Ulm, dann in Augsburg, bis sich beide Städte schließlich zu einem Fußfall vor dem Kaiser entschlossen. Konstanz und Straßburg folgten diesem Vorbild jedoch nicht. Entsprechend sind die Briefe bestimmt von gräulichen Kriegsnachrichten (z. B. Nr. 2739) sowie dramatischen Mitteilungen von Not und Elend. Die Anwesenheit des Kaisers in Augsburg führte schnell zu Veränderungen des geistlichen Lebens: Ein Teil der Prediger wurde entlassen (Nr. 2786). Die noch in Augsburg verbliebenen Geistlichen fragten sich, ob sie noch in der Stadt ausharren sollten (Nr. 2791). Der Band enthält zudem erstmals ein Regest zu Johannes Calvins Brief an Bullinger vom 25. Februar 1547 (Nr. 2825), das mit fast acht Seiten so lang ist, dass es nahezu einer Übersetzung gleichkommt. Dieser Brief ist wichtig, weil er die Verständigung zwischen beiden Theologen in der Abendmahlsfrage einleitet, die in den Consensus Tigurinus mündete.

Im Jahr 2022 erschien vorerst der letzte Band des HBBW, in Bearbeitung von Reinhard Bodenmann, Yvonne Häfner, die neu im Editorenteam ist, und Judith Steiniger nach den erprobten Editionsgrundsätzen: In Band 20 wurden die Briefe von April bis Dezember 1547 sowie in einem Anhang Nachträge zu den Jahren 1523 bis 1546 (731–774) ediert. Leider haben die bisherigen Geldgeber, die seit den 1970er Jahren das Langzeiteditionsunternehmen unterstützt haben, ihre Förderung eingestellt. 28 Jahre des HBBW – von 1548 bis 1575 – bleiben damit vorläufig – zumindest in Buchform – unediert.

Der 20. Band des HBBW umfasst 231 Briefe, die Zeugnis von einer ereignisreichen Zeit geben. Bodenmann leitete das Buch sachkundig ein (19–91): Nur 36 Briefe wurden von Bullinger verfasst, 194 waren hingegen an ihn gerichtet, einen Brief schrieb Celio Secondo Curione an den elfjährigen Hans Rudolf Bullinger (Nr. 3052), in dem es um die Ausbildung der Kinder Bullingers geht. Das Ungleichgewicht von erhaltenen empfangenen und ausgegangenen Briefen erklärt Bodenmann damit, dass nicht nur Korrespondenzpartner wie Joachim Vadian Briefe verbrannten, sondern Bullinger selbst Briefe vernichtet haben könnte oder sie 1613 von der Familie nicht dem Antistitialarchiv übergeben wurden. Andere Briefe wurden von der Familie verschenkt oder verkauft. Das Briefnetz erstreckte sich im Zeitraum von April bis Dezember 1547 auf 64 Personen und 32 Orte. Konstanz (z. B. Ambrosius Blarer) und Basel (z. B. Oswald Myconius) stechen dabei durch die Dichte der Korrespondenz heraus, gefolgt von Augsburg (z. B. Johannes Haller) und St. Gallen (bes. Joachim Vadian). Aus der intimen Arbeit des Editors an den Quellen stammen die »Überlegungen zum Briefwesen« von Bodenmann (57 f.), da sie versehentliche Fehldatierungen und die »Finanzierung der damaligen Briefübermittlung« thematisieren. Demnach gab wohl im regelmäßigen Briefaustausch jeder der beiden Korrespondenzpartner dem Boten einen Geldbetrag. Hingegen musste derjenige, der ein Gutachten oder dergleichen anforderte, auch die Kosten für den Brieftransport tragen. Weitere systematisierende Hinweise des Bearbeiters betreffen Bullinger als Briefschreiber, »Theologisches und Kirchenhistorisches« (wie Endzeiterwartung, Himmelserscheinungen, Glauben angesichts der politischen Ereignisse oder Sexualität und Ehe), das Schulwesen, das Buchwesen (zu Buchhändlern, Druckern und einzelnen Drucken), »Verschiedenes« und Prosopographisches.

Inhaltlich spiegelt Band 20 sehr eindrücklich die politische Situation nach Abzug des Schmalkaldischen Bundesheeres in Süddeutschland wider. Verschiedene Erklärungsversuche für die eingetretene Situation wurden aus protestantischer Sicht erwogen, darunter auch die eigene Untreue gegenüber Gott, die als Sünde interpretiert wurde. Zudem hoffte man im April 1547 noch auf eine militärische Wende, die den Kaiser wieder zurückdrängen würde. Doch als Ende April das kaiserliche Heer einen Erfolg nach dem anderen erzielte und Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen bei Mühlberg gefangen nehmen konnte (vgl. den Bericht Hallers, Nr. 2894), verstummte die Zuversicht. Da im Sommer die Lage nach der Gefangennahme Landgraf Philipps von Hessen und den anhaltenden Berichten von Kriegsgräueln (z. B. Nr. 2983) noch aussichtsloser wurde, dachte Bullinger über eine Neutralität Zürichs nach – eine Ansicht, die nicht unwidersprochen blieb (Nr. 2989). Noch im Juli setzte Kaiser Karl V. den Beginn des Reichstags in Augsburg für September fest. Das Auftreten des triumphierenden Kaisers in der Reichsstadt schildert ein bisher unedierter Brief Hallers vom 29. Juli (Nr. 2970). Ab Oktober stieg der politische Druck auf Konstanz, so dass der Rat versuchte, sich mit dem Kaiser zu versöhnen, der jedoch auf einer Unterwerfung bestand (Nr. 3075). Weiterhin spielten Nachrichten aus Europa (Italien und England) sowie ein Annäherungsversuch des neuen französischen Königs, Heinrich II., an die Eidgenossenschaft (Nr. 3085 u. ö.) in den Briefen eine Rolle. Nachdem 2004 Band 10A des HBBW erschienen war, der die bis dahin edierten Briefe ergänzte, bieten die Bearbeiter nun elf weitere Ergänzungen (731–774), darunter den ersten bekannten Brief an Bullinger vom 21. Dezember 1523, verfasst von Pfarrer Jost Müller Cham und Hünenberg (Nr. 0). Dass die Arbeit unter den Editoren vom kollegialen Austausch lebt, verdeutlichen der Brief des Johannes Vulteius an Bullinger (Nr. 2896) und dessen Antwort (Nr. 2897), die beide auf Griechisch abgefasst und von Matthias Dall’Asta von der Melanchthon-Briefedition in Heidelberg bearbeitet wurden. Beide Briefbände werden durch das übliche Register sorgfältig erschlossen.

Beide Bände des HBBW wurden mit Umsicht und Gründlichkeit erarbeitet. Die Kommentierung erschließt die Quellen in großer Tiefe und erleichtert ihr Verständnis deutlich. Gerade die Züricher Sicht auf den Schmalkaldischen Krieg erhellt zahlreiche unbekannte Details dieses Kriegszuges.

Natürlich ist das Auslaufen der Finanzierung des HBBW zu bedauern, da es sich bei Bullinger nicht nur um den Nachfolger Zwinglis handelt, sondern einen eigenständigen und bedeutenden Theologen, ohne den die Etablierung und Konsolidierung des Schweizer und westeuropäischen Protestantismus kaum denkbar wäre. Jedoch bietet diese Situation die Chance zu einer Neuorientierung, wie man mit diesen Quellen zukünftig umgehen will. Inzwischen konnte eine Stiftung gegründet werden (https://bullinger-stiftung.ch/), die sich seit August 2021 um eine digitale Edition des Briefkorpus bemüht. Bereits jetzt sind erste Ergebnisse, vor allem Digitalisate und Transkriptionen einzusehen (https://www.bullinger-digital.ch/), die freilich keine wissenschaftliche Edition, zu der Kommentare und Einleitungen, Erschließungen und Normierungen von Namen und Orten u. v. m. gehören, ersetzt. Großartig ist, dass bereits die bisherigen Bände des HBBW Eingang in die Internetpräsentation gefunden haben. So dürfte sich diese digitale Edition bald zu einem wichtigen Hilfsmittel der Reformationsgeschichte entwickeln.