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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

840-842

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bahlcke, Joachim, Just, Jiří u. Martin Rothkegel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Konfessionelle Geschichtsschreibung im Umfeld der Böhmischen Brüder (1500–1800). Traditionen – Akteure – Praktiken.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2022. 668 S. m. 67 Abb. = Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, 11. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783447117098.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Die kirchliche Historiographie Lateineuropas hat schon im Mittelalter, vor allem aber in der Frühen Neuzeit entscheidende Impulse von oppositionellen Gruppen und religiösen Minderheiten erhalten, die sich im Gegensatz zur herrschenden Papstkirche etablieren konnten. Unter den Bedingungen des vormodernen Geschichtsdenkens erforderte die apologetische Verteidigung des eigenen Wahrheitsanspruchs die Konstruktion historiographischer Narrative, die geeignet waren, den Vorwurf häretischer Neuerung abzuweisen und die Übereinstimmung der eigenen Position mit der idealisierten apostolischen Urkirche nachzuweisen. Auf diese Weise entstanden bei Katharern, Waldensern und Franziskanerspiritualen, bei Wyclifiten und Hussiten und vollends in den Kirchen der Reformation mehr oder weniger ausgeführte Geschichtserzählungen, die zur Grundlage einer zunehmend komplexeren Historiographie wurden. Ein im deutschen Sprachraum nur wenig bekanntes Segment der historiographischen Arbeit religiöser Minderheiten präsentiert der vorliegende Sammelband, der der Geschichtsschreibung der Böhmischen Brüder und anderer Minderheitsgemeinschaften in Ostmitteleuropa gewidmet ist. Er geht zurück auf eine internationale und interdisziplinäre Tagung, die im April 2018 in Prag stattfand. Den Anlass dazu bot das Erscheinen des ersten Bandes der Regesten der Acta Unitatis Fratrum (Regesten der in den Handschriftenbänden Acta Unitatis Fratrum I–IV überlieferten Texte, hg. von Joachim Bahlcke u. a., Wiesbaden 2018) im selben Jahr.

Bei den Acta Unitatis Fratrum handelt es sich um die wichtigste Quelle zur Geschichte der in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s aus der hussitischen Bewegung hervorgegangenen Böhmischen Brüderunität. Die Brüderunität hatte sich im Jahr 1467 mit der Wahl eigener Priester als besondere kirchliche Gemeinschaft in Unabhängigkeit von der römischen Kirche wie von der utraquistischen Kirche Böhmens konstituiert und erhob den Anspruch, die wiederhergestellte apostolische Urkirche und ein Glied der universalen Kirche Christi zu sein. Im 16. Jh. wandten sich die Brüder erst der Wittenberger, dann der Schweizer Reformation zu. Die verschärfte Verfolgung nach dem ersten böhmischen Ständeaufstand 1547 trieb viele ihrer Angehörigen ins Exil nach Polen-Litauen, wo ein eigener polnischer Zweig der Unität entstand. Eine tiefe Zäsur bedeutete der Sieg der Habsburger in der Schlacht am Weißen Berg 1620, in dessen Folge die Brüderunität in ihren Ursprungsländern Böhmen und Mähren ganz ausgelöscht wurde.

Im Zuge der Begründung des eigenen brüderischen Priester- und Bischofsamtes hatte die Unität den Kontakt zu Waldensern gesucht und so auch die auf die Konstantinische Schenkung gegründete waldensische Geschichtslegende kennengelernt. Seit dem 17. Jh. verstand man das brüderische Bischofsamt als Träger einer durch die Waldenser vermittelten apostolischen Sukzession, die in die vorkonstantinische Zeit zurückreiche. Andererseits stellte man sich seit dem 16. Jh. gegenüber der Reformation betont in Kontinuität zu Jan Hus und der hussitischen Bewegung. Ein aufschlussreiches Seitenstück zu dem Kirchengeschichtsnarrativ, das John Foxe in seinen Acts and Documents für die anglikanische Kirche entwickelte, bot nach dem Vorgang der Brüdergeschichte des Jan Jafet (1612/1614) die Historia persecutionum ecclesiae Bohemicae (1648) von Johann Amos Comenius, der eine vom Papsttum unabhängige Ursprungsgeschichte des böhmischen Christentums entwarf, das er auf die Slawenapostel Kyrill und Methodius zurückführte. Insgesamt hat die Brüderunität während ihrer ganzen Geschichte ein reges historiographisches Interesse und Bemühen bewiesen. Das von der Unitätsleitung seit Mitte des 16. Jh.s betriebene Projekt einer großen geschichtlichen Selbstdarstellung der Brüderunität führte auch zur Entstehung der Acta Unitatis Fratrum. Dabei handelte es sich um eine groß angelegte Sammlung historischer Quellen, von der vierzehn handschriftliche Bände bis heute erhalten sind. Der erste dieser Bände mit Dokumenten der Jahre 1547 bis 1549 wurde von dem Brüderbischof Jan Černý in Jung-Bunzlau angelegt und 1553 abgeschlossen. Seine Nachfolger setzten die Sammlung fort und bezogen dabei retrospektiv auch ältere Unterlagen mit ein. Mit rund zehntausend Manuskriptseiten bieten die Acta eine einzigartige Quelle für die Entwicklung der Brüderunität von der Mitte des 15. Jh.s bis 1589. Seit 2011 arbeitet eine deutsch-tschechische Kommission an ihrer Erschließung durch ein Regestenwerk in deutscher und tschechischer Sprache.

Der vorliegende Band versammelt in vier Sektionen 21 Beiträge in deutscher Sprache, deren jedem je eine Zusammenfassung in englischer und tschechischer Sprache beigegeben ist. Nach einer einleitenden Einführung der drei Herausgeber ins Thema und die verfolgten Fragestellungen (11–33) gibt in der ersten Sektion Norbert Kersken einen Überblick über die besonderen strukturellen Bedingungen und die Entwicklung der konfessionellen Historiographie in den Ländern Ostmitteleuropas vom 15. bis zum 18. Jh. (37–91). Die Aufsätze der zweiten Sektion sind der Memorialkultur und der Historiographie der Alten Brüderunität bis 1620 gewidmet und werden durch einen von Jiří Just mit einem instruktiven Überblick über Motive, Institutionen und historische Werke der Unität eröffnet (95–150). In den meisten weiteren Beiträgen dieser Sektion stehen die Acta Unitatis Fratrum, ihre Entstehung, Faktur und Wiederentdeckung im Vordergrund; Andreas Fritsch stellt die von Joachim Camerarius auf Grund der Acta erarbeitete, von der Unitätsleitung nicht approbierte Brüdergeschichte vor (301–320). Die Beiträge der dritten Sektion behandeln die Historiographie religiöser Gruppen im Umfeld der Brüderunität. Dabei werden das polnische Reformiertentum sowie die Antitrinitarier bzw. Unitarier in Ungarn und Polen in den Blick genommen. Martin Rothkegel widmet sich den Chroniken der mährischen Hutterer (397–451), Pavel Sládek stellt die Weltchronik des Rabbiners David Gans von 1592 vor (453–478). In der vierten Sektion geht es um die Historiographie der Erneuerten Brüderunität im 17. und 18. Jh. Hier untersucht Marie Škarpová die von Comenius herausgegebene Historia persecutionum (507–534), Joachim Bahlcke widmet sich der Behandlung der Unitas Fratrum im Werk des Brüderseniors und preußischen Hofpredigers Daniel Ernst Jablonski (535–588), Siglind Ehinger stellt die monumentale Brüdergeschichte des württembergischen Pietisten Georg Konrad Rieger vor (589–610). Zdeněk R. Nešpor zeigt die eminente Bedeutung, die der Unitas Fratrum in der tschechischen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jh.s für die nationale Identität zugeschrieben wurde (611–643).

Insgesamt zeichnet der voluminöse und materialreiche Band ein instruktives und sehr inspirierendes Panorama einer in der deutschsprachigen Forschung wenig bekannten historiographischen Landschaft.