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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

838-840

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vortisch, Johannes

Titel/Untertitel:

Das unschuldige Blut im Matthäusevangelium. Zur geschichtstheologischen Deutung des Todes Jesu.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. 469 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe 578. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783161606953.

Rezensent:

Christian Münch

Auf den ersten Blick scheint das Thema der Dissertation von Johannes Vortisch schmal zu sein. Sie widmet sich dem Motiv unschuldiges Blut, das im Neuen Testament eine Eigentümlichkeit des MtEv ist und dort an einigen wenigen Stellen vorkommt, stets in Verbindung mit dem Tod Jesu (27,4: unschuldiges Blut/αἷμα ἀθῷον; 23,35: gerechtes Blut/αἷμα δίκαιον; vgl. 27,24 in Verbindung mit V. 19). Außerhalb des Neuen Testaments ist die Wendung in jüdischen Schriften ebenfalls belegt, was eine Prägung vermuten lässt. Die Studie fragt nach dem genauen traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Motivs und nach dem Sinn seines Gebrauchs im MtEv (10). Die scheinbar enge Thematik führt jedoch zu zentralen Themen des MtEv und seiner exegetischen Diskussion, denn die zu besprechenden Stellen hängen mit umstrittenen Texten wie z. B. Mt 27,25 (»Sein Blut komme über uns und unsere Kinder«) zusammen und berühren die Deutung des Todes Jesu und die Israel-Kirche-Thematik. Die Arbeit wurde im Frühjahr 2020 an der Theo-logischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation eingereicht. Doktorvater ist Matthias Konradt, dessen Forschungen zum MtEv für die Studie ein wichtiger Bezugspunkt sind.

Die Einleitung (1–39) motiviert die Themenstellung und verortet sie forschungsgeschichtlich, erläutert die Methodik und begründet die Textauswahl. Methodisch sollen zur Erhellung des Motivs einerseits intertextuelle Referenzen geprüft und andererseits narratologische Beobachtungen herangezogen werden. Neben den o. g. Stellen bezieht V. noch Mt 26,28 mit ein, da auch dieser Text vom Blut Jesu spricht. Aus der Forschung setzt sich V. insbesondere mit Catherine Sider Hamilton (The Death of Jesus in Matthew. Innocent Blood and the End of Exile, 2017) auseinander, die anknüpfend an die Namen Abel und Zacharias in Mt 23,35 einen traditionsgeschichtlichen Hintergrund rekonstruiert, der das Blutmotiv in der jüdischen Rezeption der Urgeschichte und von 2Chr 24 verankert und mit Vorstellungen von Reinheit, Unreinheit und Opfer verknüpft. Darüber hinaus enthält die Einleitung »[e]ine kleine Geschichte der matthäischen Gemeinde« (11). Einige einleitungswissenschaftliche Fragen des MtEv werden hier gründlicher (auf rund 22 Seiten) behandelt, weil sie für die folgende Arbeit von hoher Bedeutung sind. V. nimmt mit Teilen der Matthäusforschung an, dass sich die matthäische Gemeinde noch im Einflussbereich der jüdischen Synagogengemeinden befindet, und charakterisiert sie als »christusgläubiges Judentum« (12). Ziel des Evangeliums sei die innerjüdische Legitimation des Christusglaubens. V. versteht das Evangelium zumindest in Teilen als »Expertengespräch« (32), in dem christusgläubige Schriftgelehrte im Ringen um Akzeptanz und Einfluss gegen nicht-christusgläubige, pharisäische Schriftgelehrte argumentieren und polemisieren.

Den exegetischen Hauptteil der Arbeit eröffnet ein Kapitel zum literarischen Ort des Motivs des unschuldigen Blutes und zu daraus sich ergebenden potenziellen Leitlinien für seine Interpretation im Mt. Hier werden die Belegtexte für das Motiv in der jüdischen Literatur erfasst und geordnet, die Verwendung des Motivs in ihnen beschrieben und das sog. deuteronomische Geschichtsbild (dtrGB) als sein literarisch-theologischer Rahmen bestimmt (41–100). Diesem von O. H. Steck beschriebenen Denkmodell nach wird die Katastrophe des Babylonischen Exils als Endpunkt eines linearen Geschichtsverlaufs mit den Stationen Ungehorsam des Volkes, Mahnung durch Propheten, mangelnde Umkehr und Strafgericht JHWHs gedeutet. Dem Motiv unschuldiges Blut weist V. dabei eine ähnliche Position zu, wie sie in Stecks Modell die Aussage habe, Israel töte die zu ihm gesandten Propheten: Es markiere eine Schwelle, deren Überschreitung das Gericht nach sich zieht. So wie die Tötung der Propheten erfordert auch das Vergießen unschuldigen Blutes als Antwort das Eingreifen Gottes. Das Motiv des unschuldigen Blutes hat also V. zufolge seinen Ursprung in einer bestimmten theologischen Deutung der Geschichte Israels, näherhin der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Babylonier, des Landverlustes und des Exils. Diese Einsicht erweist sich für die Sinnbestimmung des Motivs im MtEv als zentral.

Die anschließenden Überlegungen zum MtEv machen zunächst plausibel, dass die potentiellen Intertexte und das dtrGB den Verfassern des MtEv vertraut sind und dass für die Jesusgeschichte des Evangeliums der Bezug zur Geschichte Israels konstitutiv ist (100–118). Dann untersucht V. die ausgewählten matthäischen Stellen im jeweiligen Kontext näher auf die intertextuellen Bezüge sowie auf den Sinn der Verwendung des Motivs hin (119–342). Ein Resümee fasst die Pragmatik des Motivs des unschuldigen Blutes im MtEv zusammen (343–352). V. kommt zu dem Ergebnis, eine Zuordnung des Motivs des unschuldigen Blutes zum dtrGB liege auch im MtEv nahe. Jesus wird von den Autoritäten des Volkes abgelehnt. Das Motiv des unschuldigen Blutes diene in der Judas- und der Pilatus-Szene (27,3–10.24 f.) u. a. der Mahnung, Jesus nicht zu töten, die aber fruchtlos bleiben wird, wie dann die weitere Erzählung bestätigt. Die Folge des Vergießens unschuldigen Blutes sei das Gericht (vgl. 23,34–39; 27,25), das aus Sicht der Verfasser des Evangeliums in der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer geschichtliche Realität geworden ist. Der deuteronomistisch inspirierte geschichtstheologische Gedankengang zur Katastrophe des Jüdischen Krieges diene in einer mittels intertextueller Anspielungen durchgeführten schriftgelehrten Reflexion der innerjüdischen Legitimation Jesu, der unschuldig und als Gerechter starb. Zugleich sei er polemisch gegen die nicht-christusgläubigen Autoritäten im Umfeld des Evangeliums gerichtet, die mit den jüdischen Autoritäten im Prozess Jesu parallelisiert und so delegitimiert werden.

Der Delegitimationsversuch findet nach den Annahmen V.s im Rahmen eines innerjüdischen Konfliktes statt. In der Rezeption des Evangeliums ändert sich die Perspektive, wenn Texte wie das Blutwort (Mt 27,24 f.) von Christen feindlich gegen Juden gewendet werden. Insofern hat das Mt antijüdisches Potenzial, dessen hermeneutischer Reflexion sich der umfangreiche Epilog zur Arbeit widmet (353–390).

V. hat eine sehr gründliche, breit argumentierende Studie zum Motiv des unschuldigen Blutes vorgelegt, die dessen traditionsgeschichtlichen Hintergrund erschließt und in der methodischen Sorgfalt überzeugt. Die Verknüpfung von Intertextualität und Narrativität ist methodisch fruchtbar. In der Durchführung leuchtet die enge Verknüpfung des Motivs des unschuldigen Blutes mit dem dtrGB im traditionsgeschichtlichen Kapitel oder manche Einzeldeutung (z. B. zur Pilatus-Szene) nicht immer ein. Insgesamt ist die heilsgeschichtliche Christologie, die hier rekonstruiert wird, im Kontext des Mt aber plausibel. Sie wird auf sehr anregende Weise mit Überlegungen zur Entstehungs- und Kommunikationssituation des Evangeliums verknüpft und gewinnt so Profil. Zugleich ist es eine Stärke, dass V. die Grenzen des skizzierten heilsgeschichtlich-christologischen Interpretaments markiert und zum Beispiel in der Analyse und Deutung der matthäischen Abendmahlsüberlieferung (26,26–29) andere christologische und soteriologische Perspektiven aufzeigt.