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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

836-838

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Holladay, Carl R.

Titel/Untertitel:

Hellenistic Jewish Literature and the New Testament. Collected Essays, edited by Jonathan M. Potter and Michael K. W. Suh.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XXI, 714 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 468. Lw. EUR 189,00. ISBN 9783161547898.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Carl R. Holladay (Jg. 1943), Professor Emeritus an der Emory University in Atlanta, ist einer der herausragenden US-amerikanischen Neutestamentler, die nicht auf Feldern des aktuellen Mainstreams englischsprachiger Exegese wie der Jesus- oder Paulusforschung zugange sind und daher in der Fachöffentlichkeit weniger wahrgenommen werden, als es ihrem wissenschaftlichen Werk entspricht. Sein wichtigstes Opus ist die vierbändige kritische und kommentierte Ausgabe der »Fragments from Hellenistic Jewish Authors« (Atlanta 1983–1996), mit der er die Erforschung dieses in seiner Textüberlieferung äußerst komplexen Segments der jüdisch-hellenistischen Literatur auf eine neue, sichere Textbasis stellte. Aber auch auf klassischen Gebieten neutestamentlicher Forschung und Lehre hat er wichtige Bücher vorgelegt, so eine fast 1000 Seiten starke Einleitung in das Neue Testament (2017) und einen Kommentar zur Apostelgeschichte (2016). 2016/17 war er Präsident der SNTS. 2017 wurde er zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Der von zwei seiner Schüler herausgegebene Aufsatzband besteht etwa zu gleichen Teilen aus Studien zur frühjüdischen Literatur und zum Neuen Testament, die zwischen 1976 und 2016 publiziert bzw. erarbeitet wurden. Sechs von ihnen werden hier erstmals veröffentlicht und sollen im Folgenden etwas näher vorgestellt werden, ohne das Gewicht der übrigen Aufsätze, insbesondere der elf Arbeiten zur jüdisch-hellenistischen Literatur, mindern zu wollen.

Ungefähr in der Mitte des Bandes steht ein umfangreicher forschungsgeschichtlicher Aufsatz, der die beiden Arbeitsgebiete H.s, das hellenistische Judentum und das Neue Testament, glücklich miteinander verbindet: »Hellenism, Hellenistic Judaism, and Christian Origins: Pfleiderer and Harnack« (229–269). Detailliert werden hier mit Otto Pfleiderer und Adolf von Harnack zwei Repräsentanten, in gewisser Weise auch Antipoden der protestantischen, durch den deutschen Idealismus geprägten, religionsgeschichtlich arbeitenden Theologie an der Wende vom 19. zum 20. Jh. vorgestellt, deren Konzeptionen zur Rekonstruktion der Anfänge des Christentums für das ganze 20. Jh. prägend waren und es in modifizierter Weise bis heute sind (der Aufsatz wurde für eine Konferenz im Jahr 2001 erarbeitet). Für Pfleiderer war es die religiöse Persönlichkeit des Paulus, in der die unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Elemente der Zeit zu einer neuen, originellen Synthese fanden. »Pharisäische« und »hellenistische« Theologie seien bei ihm verbunden zu einem »distinctive set of beliefs that differed from both« (239), auch wenn Paulus selbst sich dieser neuen Stufe theologischen Denkens noch gar nicht bewusst gewesen sein mochte. Für Harnack waren drei Kräfte für die Herausbildung des Christentums entscheidend: die Entwicklung von Sozialformen, eine Tendenz zur Hellenisierung und die Gnosis (242). Die Begegnung mit dem Hellenismus und die Ablösung vom Judentum bildeten externe Ursachen, die Überwindung von Enthusiasmus und Apokalyptik und ihre Ablösung durch den »Geist des Hellenismus« innere Kräfte, die zur Entstehung der »frühkatholischen« Kirche führten und im neutestamentlichen Kanon ihren Niederschlag fanden (244 f.). Das hellenistische Judentum spielt dabei für Harnack eine ambivalente Rolle. Einerseits half es mit seinem kosmopolitischen Horizont die Enge des »orthodoxen« Judentums zu überwinden, andererseits bereitete es, partiell schon bei Paulus, die Hellenisierung des Christentums vor, das im »Frühkatholizismus« seine lebendige Verbindung zu Jesus vollends verlor. Beiden aber, Pfleiderer wie Harnack – so ergibt sich aus der glänzenden geistesgeschichtlich hochkompetenten Analyse – ging es bei unterschiedlicher Bewertung des Hellenismus im Blick auf die Entstehung des Christentums (Pfleiderer, Hellenism is friend, in Harnack it is foe, 259) letztlich um eine historische Begründung für ihre eigenen Vorstellungen von einem zeitgemäßen liberalen Christentum in den Bahnen Ritschls (261).

Aus dem neutestamentlichen Teil des Bandes seien zwei Themen hervorgehoben, die durch bisher unveröffentlichte Arbeiten besonderes Gewicht erhalten. Drei Aufsätze, von denen der ausführlichste hier erstmals publiziert wird, gehen auf ein Forschungsprojekt an der Emory University zum Thema »Streben nach Glück« zurück, für das H. den Teil zur Auslegungsgeschichte der Seligpreisungen erarbeitet hat. Ausgehend von weitgehend konsensfähigen Ergebnissen der Exegese der synoptischen Perikopen stellt er exemplarische Auslegungen von der nachapostolischen Zeit (Apostolische Väter, Irenäus, außerkanonische Schriften, Clemens von Alexandrien, Origenes) über die Kirchenväter (Gregor von Nyssa, Ambrosius, Augustin), das Mittelalter (Thomas von Aquin), die Reformationszeit (Luther) und die Neuzeit (John Wesley) bis zum 20. Jh. (Albert Schweitzer) vor und geht dabei hinsichtlich der Darstellung der Argumente, Kontexte und Intentionen der herangezogenen Autoren über das in Matthäus- oder Lukaskommentaren heute zu Findende deutlich hinaus.

Am Ende stehen vier bisher unveröffentlichte Arbeiten zum lukanischen Doppelwerk, die auf Vorlesungsreihen in den Jahren 2013 und 2016 zurückgehen und im Zusammenhang mit dem erwähnten Acta-Kommentar stehen. Themen sind hier der Heilige Geist bei Lukas (The Church of the Spirit, the Spirit of the Church: A Lukan Perspective, 566–584, 585–600) und die Stellung des lukanischen Werks ›zwischen‹ oder besser: im Kontext von Judentum und Hellenismus (Acts as Gospel: The Familiar and the Foreign, 601–617.618–636). Auch diese Beiträge zeichnen sich durchweg durch exegetische Sorgfalt und einen weiten religionsgeschichtlichen (keineswegs auf das hellenistische Judentum begrenzten!) Horizont aus und belegen damit exemplarisch, wie eine religionsgeschichtlich informierte Bibelauslegung das theologische Potential der neutestamentlichen Schriften freilegt, das einer heutigen, gegenwartsbezogenen christlichen Verkündigung zugute kommen kann.