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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

832-

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baron, Lori A.

Titel/Untertitel:

The Shema in John’s Gospel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. VIII, 266 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe, 574. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161548154.2

Rezensent:

Michael R. Jost

Bei dieser Untersuchung zum Schma Israel im Johannesevangelium handelt es sich um eine überarbeitete Dissertation, die 2015 an de Duke University angenommen wurde. Das Vorwort wurde im Dezember 2019 verfasst. Die Monographie erschien aber erst 2022. Lori A. Baron ist Assistant Professor an der St. Louis University.

In der vierseitigen Einführung (Kap. 1) stellt B. die These der Untersuchung vor: »The present study will argue that the Shema is more central to the Christology and historical setting of John’s Gospel than to any other New Testament writing, that John makes more of the Shema than do the Synoptic authors who cite it.« (2) B. verzichtet auf eine methodische oder forschungsgeschichtliche Einleitung. Die kurze Skizze der Untersuchung zeigt aber, dass aufgrund von thematischen Verbindungen mögliche Anspielungen (allusions) auf das Schma nachgewiesen werden sollen. Um einen Bezug zum Schma im Johannesevangelium plausibel zu machen, wird ein möglichst breiter Nachweis der Rezeption des Schma im antik-jüdischen und neutestamentlichen Schrifttum angestrebt. Folglich behandeln zwei Drittel der Untersuchung die religionsgeschichtlichen Parallelen (Kap. 2 bis 5). Diese Erkenntnisse werden dann auf die Interpretation des Johannesevangeliums übertragen (Kap. 6 und 7).

In Kapitel 2 wird das Schma in Dtn interpretiert, ausgehend vom Vergleich mit dem Johannesevangelium. Das Schma habe vier Themen: Hören, die Einzigkeit (uniqueness) Jhwhs, Liebe und Leben, die sich auch im weiteren Verlauf des Dtn wiederfänden. In Kapitel 3 wird das Schma in der hebräischen Bibel untersucht. Hier wird äußerst knapp die Methodik angesprochen (drei Seiten). Es wird davon ausgegangen, dass das Schma im ersten Jahrhundert große Bekanntheit hatte. Um mögliche Anspielungen zu bestimmen, greift B. auf die Überlegungen von Richard B. Hays Echoes of Scripture in the Letters of Paul zurück (und nicht Echoes of Scripture in the Gospels). Überall, wo die Thematik der Einzigkeit Gottes zu finden sei, könne eine Verbindung zum Schma angenommen werden, insbesondere dort, wo דחא verwendet werde. Zudem könne dort, wo von der Liebe zu Gott in Verbindung mit »ganzem Herzen« gesprochen werde, eine Bezugnahme vermutet werden. Die beiden Themen »Hören« und »Leben« hingegen würden für sich genommen noch keinen Bezug begründen, könnten aber ergänzend ein »Echo« des Schma belegen. Anschließend werden demgemäß auf gerade einmal 14 Seiten Josua, 1/2Kön, 1/2Chron, Neh, Ps, Spr, Jer, Sach und Mal untersucht (32–46). In dieser Kürze bleibt die Verhältnisbestimmung oft vage. Als Beispiel hierfür kann der Einfluss des Schma auf Neh 1,5 dienen: »This verse resonates strongly with Dtn 5:10 […]. The concept of love for YHWH in 5:10 anticipates its full expression in 6:5. This does not mean that Neh 1:5 alludes directly to Dtn 6:4, but it reinforces the idea that the Deuteronomic themes of YHWH’s uniqueness and love for YHWH continue to be important beyond the Pentateuch […].« (35-36) Diese wenigen Zeilen lassen einen etwas ratlos zurück. Sicherlich war diese Thematik der Einzigkeit Gottes und der Liebe für Jhwh wichtig. Aber was genau sagen nun diese Ausführungen über das Verhältnis zum Schma in Dtn 6 aus?

In Kapitel 4 werden außerbiblische Schriften aus der Zeit des zweiten Tempels untersucht. Dazu zählen Sir und Tob, die als besonders bedeutsam bezeichnet werden, sowie Arist, TestXII, Sib, Jub, 1/4Makk, PsSal, 4Esr, Bar, Jdt, Gebet des Azaria, Bel und der Drache, Pseudo-Philo (LibAnt), Fragmente von Pseudo-Griechischen Poeten (z. B. Ps-Pythagoras, Ps-Sophokles) und Ps-Orph. Darauf werden Aspekte aus den Schriftrollen vom Toten Meer gesammelt (v.a. 1QS), anschließend ausführlicher bei Philo und Josephus. In Kapitel 5 sucht B. Anspielungen in neutestamentlichen Schriften, zunächst in den Evangelien (Mk/Mt und Lk), dann in der paulinischen Literatur und Hebr, schließlich in Jak.

In Kapitel 6 wendet sich B. dem Johannesevangelium zu. Zunächst werden kurz methodische und forschungsgeschichtliche Fragen skizziert. Darin wird die Anfangsthese noch gesteigert: »This chapter will bring forward arguments to show, contra Bauckham, that John’s use of the Shema has a polemic and apologetic intent: the Fourth Evangelist deploys the Shema in order to legitimate his community’s confession of Christ, a confession which has gotten them expelled from the Jewish community.« (150) Die historische Situierung wird aber auch äußerst kurz abgehandelt. Primär hält B. sich an die Darstellung von J. Louis Martyn (als einzige Alternative wird in wenigen Zeilen Adele Reinhartz genannt). Anschließend werden Joh 5; 8 und 10 jeweils nach den vier Themen »Einzigkeit Gottes«, »Hören«, »Liebe« und »Leben« analysiert. Diese Themen werden – für sich genommen – als eine Verarbeitung des Schma interpretiert. In Kapitel 7 wird die Abschiedsrede (nicht reden) näher betrachtet, wobei zuerst Joh 14-15, dann Joh 17 und zuletzt Joh 13 analysiert werden, weil dieses Kapitel auf die Diskussion in Joh 14-15 und 17 aufbaue. Ergänzt wird dies durch einen zusätzlichen Abschnitt zu 1/2Joh. In der Abschiedsrede werde die Einheit des Sohnes mit dem Vater nicht mehr polemisch behauptet, sondern für die Gläubigen ausgelegt. Im abschließenden Kapitel 8 wird auf wenigen Seiten dargelegt, wie das Schma auch in der Kreuzigungserzählung zu finden sei. Es folgt eine hermeneutische Auslegung, inwiefern mit dieser Polemik antijüdisches Denken vermittelt werde und wie damit umzugehen sei. Auf den letzten beiden Seiten wird dann noch nach der Bedeutung des Schma im Prolog gefragt.

Die These des Buches ist von der ersten Zeile an klar. Die Untersuchung ist daher stringent und gut verständlich. Sie belegt überzeugend die große Bedeutung des Schma im antik-jüdischen und urchristlichen Denken. Hier liegt aber zugleich die Schwäche des Buches begründet. Denn B. bietet keine Herleitung, sondern eine konsequente Durchführung ihrer These. Folgt aus der weiten Verbreitung des Schma zwangsläufig, dass thematische Parallelen im Johannesevangelium als bewusste Entfaltung des Schma zu deuten sind? Inwieweit ist die Rede von der Einzigkeit Gottes zwingend mit dem Schma verbunden oder kann diese Thematik als eigenständiges Theologumenon aufgefasst werden, das nicht auf das Schma rekurrieren muss, insbesondere dort, wo sie auch mit der Einheit mit den Jüngern verbunden wird? Diese methodische Diskussion ist umso dringlicher, als darüber hinaus B. in den Anspielungen auch polemische und apologetische Zwecke sieht. Doch ist der Selbstanspruch Jesu, eins zu sein mit dem Vater, deswegen polemisch, weil diese Aussage mit dem Schma verbunden wird, oder könnte die Polemik auch ohne direkten Bezug zum Schma erklärt werden? Und noch konkreter: Entstand die neue Auslegung des Schma aus dem Konflikt mit der jüdischen Gemeinde oder der Konflikt aus der neuen Auslegung? Hier zeigt sich die Problematik, dass weder die historische Situierung des Johannesevangeliums gründlich diskutiert noch alternative Erklärungsmodelle erörtert werden. Es ist darum bedauerlich, dass die methodische Auseinandersetzung fast gänzlich übergangen wurde. Die im Anschluss an Richard B. Hays mit Blick auf Paulus geführte Diskussion wird nicht berücksichtigt (z. B. Christoph Heilig, Hidden Criticism [2015]). Selbst das Buch von Hays über Echos in den Evangelien wurde nicht einmal für die Veröffentlichung der Dissertation herangezogen. Überhaupt finden sich in der Bibliographie nur wenige Publikationen, die nach 2014 erschienen sind. Folglich baut das Buch auf einen veralteten Forschungsstand.

Insgesamt ist darum die Arbeit zu simpel gestrickt und die Auslegung der einzelnen Texte oft zu oberflächlich, so dass man nicht wirklich weiß, in welcher Weise eine Verbindung zum Schma von B. angenommen wird. Als Überblicksarbeit über die Rezeptionsgeschichte des Schma im antik-jüdischen und neutestamentlichen Schrifttum kann die Studie dennoch eine gute Diskussionsgrundlage bieten, an der vertiefende Einzelstudien zum Schma im Johannesevangelium anschließen können.