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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

825-827

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rom-Shiloni, Dalit

Titel/Untertitel:

Voices from the Ruins. Theodicy and the Fall of Jerusalem in the Hebrew Bible.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2021. 580 S. Geb. US$ 70,00. ISBN 9780802878601.

Rezensent:

Judith Filitz

Das umfangreiche Werk der Tel Aviver Professorin umfasst sowohl methodische Überlegungen zu einer Hebrew Bible Theology als auch eine Zusammenstellung verschiedener Deutungen der Eroberung und Zerstörung Jerusalems. Dalit Rom-Shiloni will eine religiös unvoreingenommene Sicht auf die biblischen Texte ermöglichen, um diese selbst zu Wort kommen zu lassen. Die ausgewählten Texte (Jer; Ez; Klgl; Ps 9 f.; 42–44; 74; 77; 79 f.; 89 f.; 94; 102 f.; 106; 123; 137; 2Kön 23–25), die überwiegend synchron gedeutet werden, versteht sie als Teile eines lebhaften »theodical discourse« (36 u. ö.), der die Ereignisse theologisch zu deuten sucht und dabei Gott und Menschen verschiedene Rollen in der Katastrophe zuweist.

Im methodischen Teil klärt die Vfn. den Begriff der Theodizee unter Rückgriff auf das Modell des Trilemmas von R. Green, welches das Bemühen zeigt, menschliches Leiden mit den Gott zugeschriebenen Eigenschaften von Allmacht und Allwissenheit einerseits und Mitgefühl andererseits zusammenzudenken (Kapitel 1). Für die Vfn. entspannt sich ein Diskursfeld, das im Blick auf Gottes Handeln Rechtfertigung, aber auch Zweifel und Protest umfasst. Kapitel 2 bietet einen Überblick über die Disziplin der Biblischen Theologie bzw. Hebrew Bible Theology aus christlicher und jüdischer Sicht, wobei sie religiöse/konfessionelle Ausrichtungen als problematisch ansieht. Alternativ wird eine unabhängige, deskriptive Theologie vorgestellt, welche die theologischen Vorstellungen in ihren literarischen und historischen Kontexten wahrnimmt (74). Kapitel 3 betont die Pluralität des theologischen Diskurses, deren Dynamik auch prinzipiell als wesentliches Merkmal einer Hebrew Bible Theology erscheint (452). Bei ihrer Textauswahl orientiert sich die Vfn. daran, ob der Fall Jerusalems thematisiert wird, wobei sie u. a. unter Rückgriff auf die Traumaforschung davon ausgeht, dass die von ihr gewählten Texte aus einem zeitlich nahen Umfeld stammen (bis zur dritten Generation nach der Krise). Kapitel 4 referiert die bisherigen Ergebnisse und erklärt das weitere Vorgehen.

Der zweite Teil widmet sich den Texten: Kapitel 5 stellt zunächst die Metapher von Jhwh als König vor, zu der die Vorstellung als Krieger und Richter gehört, was als Grundgerüst der folgenden Textanalysen dient. Kapitel 6 nennt zwei Optionen, wie Jhwh als Krieger agiert: Seinem Volk bringt er entweder Rettung oder Zerstörung. Letzteres lässt sich in drei Aspekte ausdifferenzieren, sodass er entweder selbst oder mit Hilfe von Feinden kämpft; alternativ treten die Feinde ohne göttliche Beteiligung auf, wobei wiederum erhofft werden kann, dass Gott den Angriff abwehrt. Diese unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Jhwh, Volk und Feinden bringen die Texte in den Theodizeediskurs ein, den die Vfn. mit den Kategorien Rechtfertigung, Zweifel und Protest strukturiert. Die folgenden Kapitel 7–9 analysieren verschiedene Texte, die mit der Vorstellung von Jhwh als Krieger arbeiten, erheben seine jeweilige Rolle und ordnen diese einer der genannten Kategorien zu. Berücksichtigt werden dabei auch Texte aus Jer und Ez, die die Vfn. als zeitgenössische Zitate von verschiedenen Gruppen (z. B. Jer 8,19f.21–23) versteht, sodass die theologische Pluralität nicht nur zwischen den Textkorpora, sondern auch innerhalb der Schriften zu Tage tritt. Deutlich wird, dass besonders die Propheten versuchen, Jhwhs Taten zu verteidigen, um seine Souveränität zu wahren; Texte aus der Kategorie des Zweifels erscheinen bspw. in zitierten Fragen bei Jer, als Ausdruck des Protests wird u. a. Klgl 2 verstanden. Eine Übersicht unter Zuhilfenahme verschiedener Grafiken fasst alle Modelle zusammen und setzt sie zueinander in Beziehung.

Kapitel 10–12 besprechen mit Jhwh als Richter einen weiteren Aspekt der Königsmetapher, der auch mit den Attributen gut und barmherzig verbunden wird und so einen Punkt des Theodizeetrilemmas darstellt. Bei der Richtervorstellung sind drei Themen wichtig: wie sich Sünde und göttliche Strafe entsprechen, die Verantwortung der gegenwärtigen Generation für die Katastrophe und die Bedeutung von Gottes Gnade während und nach derselben. Kapitel 11 nennt vier Vorstellungen für das Verhältnis von Sünde und Strafe: eine kollektive oder individuelle sowie eine generationenübergreifende oder eine direkte Vergeltung. Es finden sich verschiedene Optionen, die Sünden der Generationen sowie das Ausmaß der Katastrophe ins Verhältnis zu setzen: 1) Sünden werden vererbt, die jetzige Generation hat genauso gesündigt wie die Vätergeneration; 2) die gegenwärtige Generation hat nicht gesündigt, das göttliche Gericht trifft sie zu Unrecht; 3) die Sünden der aktuellen Generation sind größer als die ihrer Vorfahren, weswegen sie das Gericht trifft; 4) es gibt keine Sündenvererbung. Die untersuchten Texte, die verschiedene Positionen vertreten, deutet die Vfn. erneut mit den Kategorien von Rechtfertigung (u. a. Jer 2,4–9; 32,30 f.; Ez 2,3 f.), Zweifel und Protest (u. a. Ps 44,18–23; Klgl 5,7; Zitate wie Ez 18,1 f.; Jer 2,20–25.35). Der Aspekt der Barmherzigkeit kommt in den Texten kaum vor, lediglich stereotyp, in der Verneinung oder mit einer Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Kapitel 12). Innerhalb ihres Modells sieht R.-S. z. B. Ps 74 als Protest, für Ps 103 postuliert sie eine Strategie der Rechtfertigung Gottes, indem seine Gnade dem Zorn entgegengesetzt wird. Bei den Propheten findet sich in der gegenwärtigen Krise keine göttliche Gnade, jedoch kennt zumindest Jer auch künftiges Erbarmen.

Im letzten Kapitel rekapituliert die Vfn. wichtige Erkenntnisse und setzt die verschiedenen Stimmen zueinander in Beziehung. Den Texten gemeinsam ist u. a., dass sie Gott eine Rolle zugestehen, die er als König, Krieger und Richter ausfüllt. Unterschiede zeigen sich bei dem Agieren als Krieger sowie bei der göttlichen Gerechtigkeit im Blick auf das Verhältnis von Schuld und Strafe, eine mögliche Sündenvererbung und die Verantwortung der gegenwärtigen Generation sowie bei der Rolle von Gottes Barmherzigkeit. Ein weiteres Thema, bei dem Unterschiede erkennbar sind – das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk – wird angerissen.

Hervorzuheben ist die detaillierte Analyse der Texte, die als gleichberechtigte Partner im theologischen Diskurs verstanden werden. Theologische Positionen, die z. B. nur als Zitat vorkommen, erhalten so ein eigenes Gewicht. Die Vielzahl an Einzeltexten führt allerdings gerade bei den Propheten dazu, dass die Darstellung teilweise weniger übersichtlich erscheint. Die Ausführungen zur religiös/konfessionell geprägten Vorstellung einer Hebrew Bible Theology sind besonders auch für christliche Leser und Leserinnen interessant, wenn auch bei der christlichen Theologie kaum neuere Positionen vorgestellt werden, die ein differenzierteres Verhältnis von AT und NT bieten. Schwierigkeiten beim Lesen bereitet im zweiten Teil die Gliederung, da das Verhältnis der Kapitel zueinander nicht immer deutlich ist, was bspw. die Frage aufwirft, ob Gott als Souverän Teil der Königsmetapher neben Krieger und Richter oder dieser übergeordnet ist (vgl. auch 452–468). Nichtsdestotrotz vermag es R.-S., methodisch wie inhaltlich verschiedenen Stimmen Gehör zu verschaffen und einen spannenden und vielseitigen Diskurs über die Rolle JHWHs in der Krise aufzuzeigen und für die Hebrew Bible Theology fruchtbar zu machen.