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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

779-781

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wanckel, Katharina

Titel/Untertitel:

Wie Religionslehrkräfte von ihrem Religionsunterricht erzählen. Orientierungen angesichts von Umbruchssituationen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2022. 280 S. = Religionspädagogik innovativ, 51. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170424821.

Rezensent:

Eva-Maria Leven

Die Dissertation von Katharina Wanckel wirft die Frage auf, was Religionslehrkräfte über ihren Unterrichtsalltag angesichts von Umbruchsituationen, die sich aus dem Wandel der Organisationsformen des Religionsunterrichts (RU) ergeben, erzählen. Sie begründet das Forschungsanliegen damit, dass eine erfolgreiche Implementierung neuer Organisationsformen davon abhängt, auf welche »Eigenlogiken diese in der Schule und im RU« (49) treffen. Die Arbeit steht folglich in der Tradition empirischer Forschung zu Religionslehrkräften und ist qualitativ ausgerichtet. Bei den Befragten handelt es sich um Grundschullehrkräfte für das Fach Religion des Bundeslandes Niedersachsen.

Das Buch folgt einem klassisch-empirischen Aufbau: Im ers-ten Kapitel werden Forschungsstand und -fragen vorgestellt. Das zweite Kapitel umreißt die Situation schulischen RUs an Grundschulen in Niedersachsen. Der dritte Teil beschreibt die Methodik. In Kapitel vier bis sechs werden die Ergebnisse unter der Überschrift »empirische Rekonstruktionen« vorgestellt. Kapitel sieben diskutiert die Erkenntnisse multiperspektivisch.

In der Hinführung problematisiert W. gesellschaftliche Einflüsse auf den RU und bilanziert, dass die Unterrichtspraxis von der ursprünglichen »Vision« (12) konfessionellen Unterrichts deutlich abweicht. Konfessionell-kooperative Formen und der Unterricht im Klassenverband sind in der Grundschule Niedersachsens Standard. Für eine Weiterentwicklung des Religionsunterrichtes bedarf es laut W. neben der Theorie auch »Einblicke in den Religionsunterricht, wie er sich derzeit in der konkreten Praxis konstituiert« (14). Nach einer kundigen Zusammenstellung bisheriger (empirischer) Forschungen über den RU vor dem Hintergrund der besonderen Situation des Grundschulunterrichts in Niedersachsen konstatiert W., dass man noch wenig darüber weiß, wie Religionslehrkräfte ihre Erzählung über den Unterrichtsalltag angesichts der Grundspannung aus theoretischer Anlage des RU und tatsächlicher Durchführung gestalten und ausdeuten. Folglich möchte sie das »handlungspraktische Wissen der Lehrkräfte« (23) ergründen.

W. steckt anschließend den Forschungsstand gewissenhaft ab und verliert dabei nicht aus dem Blick, welche Funktion dieser Abschnitt für ihr Forschungsvorhaben hat: Die Bilanz diene nicht dazu, »die geschilderten Erfahrungen der Lehrkräfte und ihre Praxis hinsichtlich ›normativen Gesetzmäßigkeiten bzw. Richtigkeit‹« (27) abzugleichen. Nach dem Gang durch formalrechtliche Bestimmungen zum RU werden die aktuellen Reformbestrebungen vorgestellt: W. zeigt pointiert die wesentlichen Aspekte des KKRU, des islamischen Religionsunterrichtes und des Faches Werte und Normen auf (»Drei-Säulen-Modell«), um diese abschließend ins Verhältnis zu setzen: Die »Vervielfältigung von Angeboten religiöser Bildung« (43) hat eine Homogenisierung der Lerngruppen und die »Auflösung des Klassenverbunds« (44) zur Folge. Das Kapitel wird mit einem Realitätscheck beschlossen: Als relevant erachtet W. die Tatsache, dass das in Niedersachsen angestrebte Drei-Säulen-Modell aktuell nicht flächendeckend realisiert ist, dass der RU zugunsten der Hauptfächer häufig ausfällt und dass die Kinder, die offiziell nicht am RU teilnehmen, oft nicht anders betreut werden können als im RU. Letzteres führe nach W. zu einer »Nivellierung der christlichen Ausrichtung im Sinne eines ›Rechtmachens für alle‹« (47).

Im Anschluss beschreibt W. die methodische Anlage der Studie. Dazu erläutert sie zunächst die Grundzüge einer praxeologischen Wissenssoziologie, um in einem zweiten Schritt die passende Methodik vorzustellen: Zur Erhebung nutzt sie narrative Interviews, zur Auswertung die dokumentarische Methode. Vor allem im letzten Abschnitt dieses Kapitels erfüllt W. das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, da sie Einblicke in ihre konkrete Forschungspraxis gibt (3.3.5).

In der Darstellung der Ergebnisse geht W. behutsam vor, indem sie zunächst einen »Brückenschlag zur Materialgrundlage« (83) baut und in die komparative Analyse einführt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Auswahl der drei kontrastiven Kernfälle besser nachvollziehen. Von einer für die dokumentarische Methode üblichen Typenbildung sieht W. ab; der Fall ist gleichzusetzen mit der Einzelperson. Im Anschluss an die intensiven Einzelfallanalysen verdichtet W. die Erkenntnisse zu jeweils einem Orientierungsrahmen anhand von sieben Kriterien. Im letzten Ergebniskapitel werden die verbindenden und trennenden Aspekte der neun Interviews unter den beiden Perspektiven »Problemfach: Prekariat des RU« und »Sternstunden: Potenziale des RU« hervorgebracht. Innerhalb der Perspektiven zeigt W. verschiedene Modi auf, wie die Basisrahmung jeweils zu verstehen ist.

Abschließend diskutiert W. ihre Erkenntnisse, indem sie diese zunächst hinsichtlich der drei Aspekte – äußere Strukturen des Fachs, Lernende und Unterrichtsinhalte – zusammenfasst und diese gekonnt ins Verhältnis zu bisherigen Theorien stellt. Sie zeigt entlang der drei Aspekte, welche Eigentümlichkeiten das Fach Re- ligion unter den aktuellen Bedingungen kennzeichnen: Die Religionslehrkräfte erzählen auf allen Ebenen von Spannungen, denen sie mit einer schülerorientierten Haltung begegnen (Pädagogik vor Inhalt). Zum Schluss löst W. die in Aussicht gestellte Frage nach der Passung von Rekonstruktionen der Lehrkräfte und der avisierten Reform in Niedersachsen ein: Ihrer Erkenntnis nach werden die Reformen ebenfalls auf spannungsreichen Boden fallen, denn einerseits entlastet die Religionslehrkräfte, dass sich religiöse Bildung durch weitere Angebote homogenisiert, andererseits rückt ein Unterricht im Klassenverband damit in die Ferne. W. resümiert: Es ist ernüchternd, dass »sich die bereits konstatierte Spannung zwischen präferiertem Klassenverbandsunterricht und konfessioneller Prägung des Unterrichts auf Basis der Daten nicht in eine Richtung auflösen lässt« (258).

Mit der Dissertation von Katharina W. liegt eine religionspädagogische Arbeit vor, die zeigt, wie wertvoll und gleichermaßen aufwendig es ist, sich den eigentümlichen Erzählungen von Lehrkräften forschungsmethodisch nachvollziehbar zu nähern. Dies wird durch eine konzise und präzise Sprache W.s sowie eine vorbildliche Literaturauswahl und -darstellung begleitet. Besonders bemerkenswert ist die Transparenz W.s hinsichtlich ihrer Forschungspraxis (Kap. 1.3, 3.2.2 und 7.7). Anzumerken gilt lediglich, dass eine Fokussierung der Forschungsfrage auf die avisierten Reformbewegungen die Auswertung erleichtert und möglicherweise die gewünschte Typenbildung ermöglicht hätte; dies wiederum hätte jedoch die Vielfalt der Ergebnisse beschränkt. Die Arbeit fügt dem Diskurs um die Zukunftsgestalt des RU eine wichtige Perspektive hinzu – diejenige der Lehrkräfte. Was sie erhoffen, wie sie Umbruchsituationen erleben, sollte nicht nur Teil empirischer Rekonstruktion sein, sondern vielmehr eine Grundlage für die künftige Modell- und Theoriebildung werden.