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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

777-779

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Suhner, Jasmine

Titel/Untertitel:

Menschenrechte – Bildung – Religion. Bezugsfelder, Potentiale, Perspektiven. = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 26.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh (Brill) 2021. XIV, 580 S. m. Abb. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783506704986.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Jasmine Suhner wurde mit dieser Arbeit 2019 unter Anleitung des Praktischen Theologen Thomas Schlag an der Universität Zürich promoviert. Sie unternimmt es, in einem großen Bogen, der von der Systematischen Theologie und Ethik über die Religionspädagogik bis zu Recht und Pädagogik der Menschenrechte reicht, Diskurse zur Legitimation von Religionsunterricht darzustellen: »Die gesellschaftliche und individuelle Relevanz öffentlicher – staatlich verantworteter – religiöser Bildung darzustellen und im Kontext des religionspädagogischen, religionsdidaktischen, aber auch pädagogischen und theologischen Diskurses sowie in den institutionellen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sichtbar und plausibel zu machen, ist die gestellte Aufgabe.« (XII) Für deutsche Leser ist wichtig, sich deutlich zu machen, dass in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Staat und die Verankerung des Reli-gionsunterrichts in der Schule in der Regel Schweizer Verhältnisse zugrunde gelegt werden.

Als Methode bedient sich S. der Literaturrecherche (11), und sie selbst charakterisiert ihre eigene Theologie mit der Methode des »mutwillig-fröhlichen Querdenkens« (XIII), was sie offensichtlich formulierte, bevor der Begriff des Querdenkens durch radikale Impfgegner usurpiert wurde. Den zentralen Fokus der Arbeit bilden die Menschenrechte (10 f. u. ö.), die in ihren kognitiven, emotionalen und handlungstheoretischen Dimensionen herausgestellt werden. S. entwickelt ein Programm, das sie in drei Teilen entfaltet. Im ersten Teil stellt sie die Diskurse über öffentliche Theologie und öffentliche Religionspädagogik als Basiskonzepte dar. Im zweiten Teil denkt sie über Menschenrechtsbildung als pädagogische Aufgabe nach. Im dritten Teil stellt sie religionspädagogische Konzepte vor, die der ermittelten Aufgabe der Vermittlung zwischen Menschenrechten und Religionspädagogik genügen. Die Analyse ist für S. zugleich ein (idealistisches) Plädoyer, nämlich »für die Integration der Dimension von Religion(en) in eine zeitgemäße und zukunftsorientierte Theorie der öffentlichen Bildung.« (23)

S. spricht von der »prinzipiellen Perspektivität« (24) ihrer Untersuchung und realisiert das in der Aufnahme einer Vielzahl von interdisziplinären (inner- wie außertheologischen) Reflexionen. Ich halte Letzteres für eine Stärke der Arbeit, sehe darin aber auch eine Schwäche. Darauf ist zurückzukommen.

Im ersten Teil (27 ff.) entwickelt S. eine Perspektive der öffentlichen Theologie, und sie versteht es meisterhaft, systematische, ethische und bildungstheoretische Überlegungen miteinander zu verbinden. Und das bedeutet, sie definiert nicht nur wichtige Begriffe wie Öffentlichkeit, Theologie, Religion, Pluralisierung, Enttraditionalisierung, sondern sie stellt jeweils den Diskurs über diese Begriffe dar. Begriffe sind nicht statisch, sondern befinden sich im Fluss. Von der öffentlichen Theologie kommt S. auf öffentliche Religionspädagogik (115 ff.). Eigentlich kann man sich Religionspädagogik gar nicht anders als eine öffentliche Angelegenheit zwischen Staat, Religionen und Bildungseinrichtungen vorstellen, aber vor dem Hintergrund Schweizer Verhältnisse und dem Hintergrund der Menschenrechtspädagogik macht der Begriff eher Sinn, auch wenn dies seine m. E. etwas zu plakative Selbstverständlichkeit nicht ganz zu beseitigen vermag.

Im zweiten Teil über Religionspädagogik kommt S. zu dem Ergebnis, Religion als »obligatorische[n] Bestandteil von Allgemeinbildung« (270) zu sehen. Aus Gründen der eigenen Neutralität bewertet der Staat Religionen nicht, aber er klammert sie darum nicht aus der (allgemeinen) Bildung aus. Im dritten Teil über Menschenrechtspädagogik (278 ff.) erläutert S. zunächst den Begriff der Werte, sie referiert die Geschichte der Menschenrechte, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Menschenrechtspädagogik. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es förderungswürdig sei, die wechselseitige Beziehung zwischen Religionspädagogik und Menschenrechten stärker herauszustellen: »Der […] Leitgedanke läuft darauf hinaus, Menschenrechtsbildung als eine bildungstheoretische Reflexionskategorie auf didaktische Fragestellungen öffentlicher Religionspädagogik zu begreifen. Umgekehrt […] lässt sich dann auch die Öffentliche Religionspädagogik als eine bildungstheoretische Reflexion auf die Konstitution von grundlegenden Werten, exemplarisch dargestellt an den Menschenrechten, begreifen.« (306; vgl. auch z. B. 435 f.)

In ihren Schlussüberlegungen räumt S. selbst den idealistischen Charakter ihrer Arbeit ein: »Die vorliegende Arbeit ist keine empirische. Wenn sie auch keineswegs praxisfern ist, so mag man ihr doch das Prädikat des Idealismus aufdrücken. Dies zu Recht.« (513) Vielleicht stellt S. allerdings damit ihr Licht ein wenig zu sehr unter den Scheffel. Denn sie hat es nach meinem Urteil verstanden, die impliziten Axiome und Grundentscheidungen einer stärker werdenden Richtung gegenwärtiger Religionspädagogik luzide herauszuarbeiten und gleichzeitig den Bezug zu einer – wenn auch zunehmend umstrittenen – Version der politisch-öffentlichen Theologie herauszustellen, ganz zu schweigen von den vielfach verarbeiteten interdisziplinären Bezügen. Dies erscheint mir als der sehr große Vorzug dieser Arbeit.

Meine Fragen beginnen bei der verwendeten Sprache, derer sich S. bedient. Sie versucht, jeden der von ihr verwendeten zentralen Begriffe in seiner Volatilität und Umstrittenheit darzustellen. Das allerdings erzeugt den Nachteil einer übergroßen Länge der Arbeit, die als gedruckte Publikation doch nur die gekürzte (IV) Version der Dissertation ist. Bei der Darstellung des Übergangs von öffentlicher Theologie zu öffentlicher Religionspädagogik überzeugt mich diese Ausführlichkeit noch, bei dem sehr summarischen Kapitel über Menschenrechte, ihre Systematik und Geschichte ist das nicht mehr der Fall. Interessant wird die Darstellung erst wieder, wo S. auf die neu im Entstehen begriffene Menschenrechts-pädagogik kommt (375 ff.). Der Versuch, die im Fluss befindlichen Elemente mehrerer Diskurse gleichzeitig präsent zu halten, kann im Effekt nicht von Erfolg gekrönt sein. Hier wäre mehr Mut zum erwähnten Querdenkertum sinnvoll gewesen. Und da helfen auch nicht die zahlreichen Zwischenbetrachtungen, Zusammenfassungen, Vorausblicke und »Zwischenhalt[e]« (z. B. 53). Es reicht nicht aus, Diskurse, also die Großwetterlagen zu beschreiben oder zusammenzufassen; es braucht auch Anmerkungen und Hinweise darauf, aus welchen Gründen es notwendig sein könnte, nun religionspädagogisch in eine bestimmte Richtung zu argumentieren. Genau deswegen gewinnt die Arbeit auch im Schweizer Kontext an Trennschärfe, weil es dort Kräfte gibt, die die von S. behauptete universale Geltung von Religionen bestreiten. Der Mut zu mehr von solchem prägnanten Querdenkertum hätte der Arbeit zu mehr Kürze und Prägnanz verholfen, auch wenn ich einsehe, dass manches an der breiten Darstellung den Gepflogenheiten akademischer Qualifikationsschriften geschuldet ist. Man darf auf die Zeit gespannt sein, wenn diese Autorin ihre theologischen Gedanken von solchen professionsspezifischen Zwängen befreit publiziert.

Am Ende noch eine Anmerkung aus der Perspektive eines systematischen Theologen. Das geheime Zentrum der Arbeit S.s scheint mir die Anthropologie, nämlich der Nachweis, dass alle Menschen durch beides qualifiziert sind: erstens durch Würde und Rechte und zweitens durch Religion oder Religiosität. S. hat sich entschieden, beides durch die praktisch-theologischen, ethischen und pädagogischen Diskurse durchzubuchstabieren.