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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

775-777

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Reiter, Janina

Titel/Untertitel:

Macht von Gefühlen – Macht über Gefühle. Philosophische Gefühlstheorien in religionspädagogischer Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 247 S. = Praktische Theologie heute, 181. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170396524.

Rezensent:

Matthias Gronover

Die Studie bearbeitet den Zusammenhang von Gefühlen und religiöser Kompetenz. Wenn wir eine Aufgabe mit Gefühl angehen, vertrauen wir dabei auf unsere Empfindungen und unsere Kompetenz, die Herausforderung lösen zu können. Unser Tun wird dabei begleitet von Gemütsregungen, also von Freude oder Angst, Zuversicht oder Resignation. So subjektiv solche Gefühle sind, so anschaulich sind sie doch zu beschreiben und zu erzählen und so sehr sind sie gleichzeitig auch von der Situation her bestimmt, in der wir eine bestimmte Problemstellung bearbeiten. Besteht die Herausforderung beispielsweise darin, die in der Gesellschaft Ende Dezember immer noch anzutreffende, weihnachtliche Stimmung vor dem Hintergrund der biblischen Weihnachtsgeschichte zu deuten, durchmischt sich Vorfreude auf das Fest mit rationalen Textzugängen und -deutungen. Diesem Zu- und Ineinander geht die Arbeit nach.

Die Arbeit von Janina Reiter wurde im Sommer 2019 als Dissertationsschrift angenommen. Sie bringt philosophisch-theoretische Systematisierungen von Gefühlen ins Gespräch mit dem religionspädagogischen (Kompetenz-)Diskurs. So leistet sie in hervorragender Weise eine religionspädagogische Grundlegung, nicht zuletzt für die religionsdidaktische Diskussion. Die Gelingensbedingungen sieht der Rezensent dabei in der offen formulierten Intention der Arbeit, nämlich »zu einer vertieften Beschäftigung mit Gefühlen in der und für die Religionspädagogik beizutragen« (20); in der präzisen Nachzeichnung philosophischer Gefühlstheorien aus neuphänomenologischer und kognitivistischer Perspektive; und der gewissermaßen vor der Arbeit liegenden Erkenntnis, dass die Dimension der Gefühle höchst bedeutsam für religiöse Bildungsprozesse ist.

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. Im ersten Kapitel wird das Thema eingeführt und die Arbeit in ihrer Schrittigkeit vorgestellt. Kapitel 2 widmet sich Gefühlen »als Thema der Theologie und Religionspädagogik« (23−59). Es zeigt sich schon hier, dass die philosophische Gefühlstheorie von Hermann Schmitz einen wesentlichen Impetus zum Erkenntnisinteresse der Arbeit leistet, weil Schmitzs Verständnis von Gefühlen als »machtvolle Atmosphären« praktisch-theologisch relevant ist. Die Rezeptionslinien in der Theo- logie zeichnet die Vfn. in diesem Kapitel nach. Kapitel 3 (61−79) geht auf das Potenzial von Gefühlen als gedeutete Gegenwarten ein. Hier wird die doppelte Bezüglichkeit von Gefühlen herausgearbeitet: ihre Valenz zu Subjekten, die sie in sich spüren und die sie ausdrücken und die Macht, die Gefühle über Subjekte haben können. Kapitel 4 (81−111) rekonstruiert neuphänomenologische Gefühlstheorien, die das »Betroffensein« des Menschen und die darin enthaltene Ohnmachtserfahrung stark machen. In einem gewissen Gegenüber dazu erarbeitet Kapitel 5 »Emotionen als Kognitionen mit narrativer Struktur« (113−146). Gewährsleute sind hier vor allem Martha Nussbaum und Christiane Voss, die Gefühle zwar entlang gesellschaftlicher Dispositive verstehen, denen zufolge Emotionen selbst aber letztlich »auf der Verwundbarkeit und den Abhängigkeiten« des Menschen beruhen (142). Als solche seien sie allerdings auch in Erzählungen verarbeitbar und deswegen der Macht subjektiver Deutungen auch nicht entzogen. Diese entfaltet Kapitel 6 (147−162) weiter. Die bereits oben genannte Zwischenstellung der Gefühle zwischen Macht und Ohnmacht wird hier als double bind von subjektiver Ent- und Ermächtigung rekonstruiert. Daran schließt die religionspädagogische Diskussion an, die Kapitel 7 anhand der »kompetenzorientierten religiösen Bildung« ausführt (163−225).

Die Diskussion der philosophischen Gefühlstheorien in religionspädagogischer Absicht wird am Beispiel des Weihnachtsfestes durchgeführt. Das ist in mehrfacher Hinsicht eine kluge Wahl, (a) weil hier der Aspekt der Gefühle als »machtvolle Atmosphären« (Schmitz) gut herausgearbeitet werden kann. Die Vfn. systematisiert ihre Diskussion durch die Rezeption der in den einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA) formulierten Dimensionen religiöser Kompetenz (Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit, Deutungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Dialogfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit). Sie macht anhand dieser gängigen Rezeption deutlich, dass Gefühle eine religionspädagogisch insgesamt vernachlässigte Größe darstellen, weil sie nicht nur eng mit Werturteilen verknüpft sind (223), sondern die narrative Struktur von religiösen Traditionen (zum Beispiel in der Bibel), aber auch von Schüler- und Schülerinnenäußerungen bestimmen. Insofern bringt die Vfn. ein starkes, weiteres Argument vor, kognitive Engführungen religiöser Bildung zu vermeiden. (b) Des Weiteren wird die Arbeit dadurch anschlussfähig an den kulturwissenschaftlichen Diskurs, der die Profanisierung christlicher Feste schon lange unter dem Aspekt der Stimmungen und Gefühle, die hier transportiert werden, diskutiert.

(c) Auch wenn die Vfn. durch die Wahl der bildungspolitischen Komponenten religiöser Kompetenz (gemäß EPA) einen engen Bezug auf den (evangelischen) Religionsunterricht herstellt, zeigt sie doch auch und ganz wesentlich, dass der theoretische Rahmen religionspädagogischer Reflexionen dieses Unterrichts viel weiter gefasst werden muss, als es gemeinhin der Fall ist. Das gilt sowohl im Blick auf die Theorie (die Arbeit rezipiert exemplarisch philosophische Texte) als auch im Blick auf die Empirie, die viel stärker noch gesellschaftliche Dispositive des Fürwahrhaltens berücksichtigen sollte (das Weihnachtsfest als Stimmung, nicht zuerst als Fest der Geburt des Erlösers). Zu fragen wäre, gerade weil die Vfn. diesen Zusammenhang herstellt, inwieweit ein bildungspolitisch-instrumenteller Begriff von religiöser Kompetenz nicht durch die aufgezeigten Gefühlstheorien dekonstruiert wird und Kompetenz-orientierung von diesen Theorien her viel kritischer zu sehen ist.

Die Leistung dieser Arbeit liegt in der Erweiterung des Blicks auf religionspädagogisch relevante Phänomene. Die Suche nach ihnen sollte nicht immer nur im Klassenzimmer beginnen. Die Arbeit zeigt, dass die Dimension der Gefühle in religiösen Bildungsprozessen mehr Beachtung braucht, weil begründet angenommen werden kann, dass Emotionen sehr wirkmächtig für Bildung und Lernen sind. Dass performative, gestalt- und erlebnispädagogische, ästhetische und andere konzeptionelle (Local Heros, Compassion etc.), religionsdidaktische Ansätze dies implizit operationalisieren, ist der Vfn. nicht entgangen. Weitere Studien sollten diesem Zusammenhang von didaktischer Intention und ihrer impliziten wie expliziten Gefühlsorientierung nachgehen. Wichtige Werkzeuge liegen in den Kulturwissenschaften bereit, genannt seien hier nur die Arbeiten von Monique Scheer (Enthusiasm, 2020), und Thomas Hauschilds Arbeiten zur Magie und Macht religiöser Riten.