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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

772-775

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Reese-Schnitker, Annegret, Bertram, Daniel u. Dominic Fröhle [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Gespräche im Religionsunterricht. Einblicke – Einsichten – Potenziale.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2022. 532 S. = Religionspädagogik innovativ, 45. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170381667.

Rezensent:

Nadja Troi-Boeck

Im Fokus dieser Studie steht das tatsächliche, alltägliche Unterrichtsgespräch, das in der Kasseler Unterrichtsgesprächsstudie begonnen wurde zu reflektieren. Beteiligt an diesem Projekt waren sowohl wissenschaftlich tätige als auch in der Praxis arbeitende Personen (9). Bei dem Buch handelt es sich um einen Sammelband von 18 verschiedenen Forschern und Forscherinnen zu diesem Thema. Sie präsentieren die Ergebnisse dieser Studie, darüber hinaus geben sie auch einen ausführlichen Einblick in das Thema Unterrichtsgespräche und den aktuellen Forschungsstand dazu. Abschließend werden Hinweise und praktische Arbeitshilfen für die Unterrichtspraxis zur Verfügung gestellt.

Im ersten Teil des Buches finden sich hauptsächlich theoretische Reflexionen und der Forschungsstand zum Thema Unterrichtsgespräch. Nach ausführlicher Diskussion der Definition (Annegret Reese-Schnittker) und des Begriffs Unterrichtsgespräch und seiner Forschungsgeschichte (Daniel Bertram), folgen Betrachtungen der Aufgabe des religiösen Unterrichtsgesprächs als Sprachbildung (Andrea Schulte). Hanna Roose problematisiert in ihrem Beitrag die elementaren Bestandteile alltäglicher unterrichtlicher Interaktionsstrukturen und zeigt eine Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Dagegen verweisen Carolin M. Altmann, Julia Drube und Petra Freudenberger-Lötz auf die Bedeutung des Unterrichtsgesprächs im Rahmen des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen, wenn das Gespräch zum Nachdenken aller Beteiligten führt. Marcel Franzmann spielt dann die Frage nach der Relevanz von Gender im Unterrichtsgespräch ein, die seiner Meinung nach noch weitgehend ein Desiderat ist, obwohl es inhaltlich und formal eine Bedeutung für religiöse Lernprozesse hat. Es folgen Beiträge von Sarah Delling zur Themenentwicklung und von Rebecca Gita Deuter zum Unterrichtsgespräch über biblische Erzählungen. Hilfreich ist die Vertiefung des Verständnisses vom Unterrichtsgespräch als kommunikatives Geschehen von Matthias Scharer, auf dem Hintergrund der themenzentrierten Interaktion und der kommunikativen Theologie. Abschließend beschreibt Hans Schmid die Rolle des Gesprächs in der Gesamtdramaturgie des Unterrichts. Zum Abschluss beschreibt Peter Orth verschiedene Gesprächsformen im Unterricht und diskutiert, wann sie als gelungen verstanden werden können.

Der zweite Teil des Buches ist eine ausführliche Präsentation der Kasseler Unterrichtsgesprächsstudie. Die Forscher und Forscherinnen wählen einen beschreibenden Zugang zur Wirklichkeit des realen Religionsunterrichts (192). Dabei wird in einem ersten Forschungsschritt die Gestalt der Gespräche wertfrei beschrieben. Erst in einem zweiten Schritt folgen Einschätzung und fachliche Bewertung der Gesprächsgestalten hinsichtlich ihres religionspädagogischen Potenzials (192). Es wurden ausschließlich Plenumsgespräche mit der ganzen Klasse (193) untersucht. Die Forschungsmethode umfasst sowohl statistische Auswertungen als auch qualitative Feinanalysen von Unterrichtsgesprächen, wodurch qualitativ aufschlussreiche Erkenntnisse über die Gesamtsituation von Gesprächen im Religionsunterricht gewonnen werden sollen (196 f.) Es wurden dafür 63 Stunden Religionsunterricht zum Thema Gottesrede und zu eschatologischen Themen in acht verschiedenen Lerngruppen der 6. bis 10. Klasse videografiert (videobasierte Beobachtung nach Riegel und Leven 2018). Es handelte sich bis auf eine Ausnahme um katholischen Religionsunterricht. Dazu wurden handschriftliche Memos der Unterrichtsstunden angefertigt. Die Erhebung wurde an sechs Realschulen und zwei Gymnasien durchgeführt. Der Erhebungszeitraum war November 2009 bis November 2016 und fand in Niedersachsen und Hessen statt. Die Lerngruppen hatten eine Größe von 8 bis 25 Schülern.

Aus dem Material konnten 351 Unterrichtsgespräche mit einer Mindestlänge von 15 sec. identifiziert werden. In der ersten Phase der Auswertung wurden diese mithilfe eines niedrig-inferenten Ratings (konkret beobachtbare Ereignisse) untersucht und so die äußere Gestalt des Gesprächs und die Frage analysiert, wer zu wem oder miteinander spricht (194). Dabei konnte der Unterrichtsverlauf formal nach den Kategorien Zeit, Sozialform und inhaltliche Aktivitäten beschrieben werden. Zudem wurden die Gespräche deduktiv in vier Gesprächskategorien eingeordnet: Erstens in das echte Unterrichtsgespräch (Schüler beziehen sich aufeinander), zweitens in das Unterrichtsgespräch als Reihung von Beiträgen der Schüler (Beiträge folgen ohne Unterbruch durch die Lehrperson, nehmen aber keinen Bezug aufeinander), drittens in das Gespräch in verteilten Rollen als getarnte Lehrervorträge (Lehrperson lenkt durch Fragen, um von ihr angedachten Inhalt zu erinnern oder wiederzugeben) und viertens in das Pingpong-Gespräch zwischen der Lehrperson und den Schülern bzw. Schülerinnen (strenge Zweigliederung, ständiger Wechsel der Beiträge zwischen Lehrperson und Schülern, Lehrperson wiederholt, kommentiert, bewertet oder vertieft die Beiträge der Schüler) (194).

145 Gespräche dauerten länger als zwei Minuten. Diese wurden in der zweiten Phase der Auswertung hochinferent geratet (Bewertung von Ereignissen), wodurch Analyse, Vergleich und Bewertung des didaktischen Potenzials möglich wurden. Dazu dienten 32 sowohl deduktiv als auch induktiv entwickelte Kategorien. Schlüsselgespräche wurden anschließend – angelehnt an die objektive Hermeneutik Oevermanns – in einem sequentiellen Analyseverfahren feinanalysiert. Dabei konnte genauer auf verpasste Chancen und gelungene Aspekte eingegangen werden.

Zu erwähnen sind die methodisch sehr klare Ausführung der Studie und die umfangreichen Tests der Rater-Reliabilität, was für die Güte dieser Methode spricht. Ebenfalls wurde viel Zeit für die Überarbeitung der Kategorien verwendet und – wo notwendig – wurde sie angepasst und verfeinert. Die Triangulation der unterschiedlichen Auswertungsverfahren ermöglichte Korrelationen herzustellen und vergleichende Analysen durchzuführen.

Wichtige Ergebnisse der statistischen Auswertung der Resul-tate sind u. a. die Erkenntnis, dass sieben Faktoren die Unterrichtsgespräche besonders beeinflussen. Das sind Gesprächs- dynamik, theologischer Bezug, Vertiefung durch die Lehrperson, fachlich-metakognitive Reflexion, Erfahrungsbezug, Lernprozess-reflexion und strukturierende Lenkung durch die Lehrperson. Insgesamt haben Lehrer und Schüler den entscheidenden Einfluss auf Unterrichtsgespräche, institutionelle, räumliche oder mediale Einflussfaktoren haben geringere Bedeutung (364). Überraschend und wichtig ist die Erkenntnis, dass der Theologiebezug des Gesprächsinhalts die Dynamik des Gesprächsprozesses positiv beeinflusst. Da allerdings ein hoher Lenkungs- und Gesprächsanteil von Lehrpersonen wiederum die Intensität der Unterrichtsgespräche mindert, stehen die Lehrpersonen jeweils zwischen dem Entscheid, wie stark sie als Fachexperten bzw. -expertinnen eingreifen sollen und wie sehr sie sich auf Zurückhaltung und Zuhören beschränken müssen. Von den Gesprächskategorien zeigt nur das echte Unterrichtsgespräch wirklichen Lerngewinn bei den Schülern. Hier vertiefen die Schüler, tragen etwas bei, korrelieren und setzen sich mit den eigenen kognitiven Prozessen auseinander. Die anderen Unterrichtsgespräche haben laut der Thesen zwar ihren Ort, kommen in den Unterrichtsstunden sehr häufig vor und schränken dadurch den Raum ein, Kompetenzen wie Reflexion, miteinander reden, ko-konstruieren zu fördern. Die Forschergruppe problematisiert die Frage, ob der Anspruch an Gespräche nicht grundsätzlich zu hoch angesetzt ist und so eine Überforderung für Lehrpersonen und Schüler bzw. Schülerinnen darstellt.

Die abschließenden Thesen zeigen auf, dass die Lehrpersonen in mehrerer Hinsicht in einem Zwiespalt stehen: Lenken oder greifen sie zu stark ein, leidet die Qualität des Unterrichtsgesprächs. Bei zu lascher und unstrukturierter Moderation geschieht dasselbe. In Unterrichtsgesprächen stimuliert aber gerade ein fachlicher Beitrag und hilft den Gesprächsgegenstand zu vertiefen. Wird der Beitrag zu lang, dann wiederum bremst er die Beteiligung der Schüler. Es braucht also ein großes Feingefühl der Lehrpersonen, die klare Leitung der Unterrichtsgespräche wahrzunehmen, ohne zu dominant zu werden.

Überraschend war die Erkenntnis, die insbesondere durch die Feinanalysen von mehreren Unterrichtsgesprächen möglich wurde, dass korrelative Prozesse hauptsächlich durch Fragen und Probleme der Lernenden initiiert wurden. Für diese Prozesse war wiederum die Zurückhaltung der Lehrperson förderlich. Die Autoren und Autorinnen schlussfolgern: »Dennoch bleibt es abschließend immer den Lernenden überlassen, ob sie aktiv korrelieren, also zwischen beiden Ebenen Bezüge herstellen oder nicht.« (474) Es sei wiederum eine Überforderung des Unterrichtsgesprächs, wenn Korrelation ein grundlegendes Merkmal sein muss.

Unterrichtsgespräche entstehen durch Initiation der Lehrperson genauso wie durch eine konkrete Situation im Unterricht. Letzteres führt besonders häufig zu echten Unterrichtsgesprächen. Wiederum bringt das die Lehrpersonen in einen Widerspruch, soll doch Unterricht einerseits sinnvoll geplant sein, andererseits muss die Lehrperson offen sein für Impulse der Schüler bzw. Schülerinnen, die eventuell auch die Planung durchkreuzen. Beides lässt sich nicht immer vereinbaren. Die dritte Antinomie zeigt sich im Bereich der Inklusivität. Um möglichst viele Schüler zu Beiträgen zu ermutigen, sollen Kommunikationsbarrieren vermieden werden. Wenn aber alle Beiträge gelobt werden und nicht auch Kritik und fachliches Feedback möglich ist, kommt es nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung. Es bedarf also der respektvollen Qualifizierung von Beiträgen.

Der große Gewinn dieser umfangreichen Studie ist die erstmalige akribische Sichtung und Beschreibung von Unterrichtsgesprächen im realen Unterricht. Das ergibt einerseits die Möglichkeit, die Bedeutung von Gesprächen für den Lernprozess und den Prozess der Sprachbildung hervorzuheben und dem Vorwurf entgegenzutreten, dass Religionsunterricht nur ein »Laberfach« sei. Andererseits weist die Studie auch auf die hohen notwendigen Kompetenzen von Lehrpersonen hin, damit Gespräche wirklich gewinnbringend sind und Lernziele vertiefen. Drittens zeigt die Studie die Grenzen von Unterrichtsgesprächen auf und wirft zu Recht die Frage auf, ob der hohe Anspruch nicht letztlich eine Überforderung ist, zumal echte Unterrichtsgespräche häufig nicht planbar sind. Dadurch ergibt sich für die Praxis aber auch eine Entlastung. Es gehört zur Normalität des Unterrichts, dass nicht jede Stunde eine Sternstunde sein muss. Die Erkenntnisse erbringen damit einerseits auf der wissenschaftlichen Ebene einen wichtigen Grundlagenbeitrag zur Beschreibung von Unterrichtsgesprächen, sie geben andererseits für Praktiker und Praktikerinnen wichtige Hinweise zur Initiation und Gestaltung von Gesprächen und zu deren Bedeutung im Religionsunterricht; zudem leisten sie einen Beitrag zum Erkennen der hohen Bedeutung von Sprachsensibilität für Gespräche in der Ausbildung von Religionslehrern bzw. -lehrerinnen.