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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

768-770

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Finkenstein, Eva

Titel/Untertitel:

Im »Raum der Suche nach Verständigung«. Beiträge konfessionsloser Schülerinnen und Schüler zum evangelischen Schulprofil.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 316 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374072231.

Rezensent:

Saskia Eisenhardt

Der Ausgangspunkt der Dissertation von Eva Finkenstein, welche an der Forschungsstelle »Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse« der Theologischen Fakultät Halle (Saale) unter der Leitung von Michael Domsgen entstand und 2021 erfolgreich abgeschlossen wurde, liegt in der paradox anmutenden Entwicklung, dass in Ostdeutschland – einer der am stärksten säkularisierten Regionen weltweit – seit der Wiedervereinigung eine Vielzahl an evangelischen Schulen entstanden ist. Diese werden im Kontext einer konfessionslosen Mehrheitsgesellschaft auch von schätzungsweise 40 % konfessionslosen Schülerinnen und Schülern besucht (10). Vor diesem Hintergrund fragt F., was dies für das evangelische Profil der Schulen bedeutet und wie die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler ihren von religiöser Praxis geprägten Schulalltag deuten.

Die Studie ist in sechs Kapitel untergliedert. Das erste Kapitel beschreibt das konfessionelle Profil evangelischer Schulen zunächst in juristischer, historischer, konzeptioneller sowie empirischer Perspektive, bevor F. in ihrem eigenen Zugriff dieses als soziale und diskursive Praxis, welche durch die schulischen Akteurinnen und Akteure realisiert wird, definiert (43). Auf diese Weise werde – im Rekurs auf Karl Ernst Nipkow – der titelgebende »Raum der Suche nach Verständigung« konstituiert, in welchem die schulischen Akteurinnen und Akteure gemeinsam Bezüge auf das Evangelium herstellen (46). Dabei dürfen auch die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler nicht ausgeklammert werden, und so fragt F. in einem qualitativ-empirischen Zugang, wie diese »die religiöse Dimension des evangelischen Profils erleben und deuten« (48), um auf diese Weise das Desiderat um deren subjektive Sichtweisen auf die tatsächliche schulische Praxis evangelischer Schulen im Kontext Ostdeutschlands zu bearbeiten.

Im zweiten Kapitel wird die Prämisse des evangelischen Profils als Praxis zunächst aus kirchentheoretischer und interkulturell-theologischer Perspektive betrachtet. Durch den Bezug auf das Evangelium wird diese Praxis im Anschluss an Christian Grethlein einerseits und Judith Gruber andererseits als eine bestimmte Form der ecclesia bzw. als ein bestimmtes Christentum verstanden (59 ff.) und somit als partikularer und zugleich pluraler Kommunikationsprozess begriffen (59 ff.), der stets in seinem jeweiligen Kontext zu betrachten ist. F. folgt ihrem eigenen Postulat, und so werden anschließend die für die Studie relevanten Kontexte »Ostdeutschland« und »Konfessionslosigkeit« beschrieben, wobei auch deren begriffliche Problematiken nicht ausgeklammert, sondern in ihrem Status als diskursiv hergestellte Konstruktionen ausführlich reflektiert werden (64 ff.). Vor diesem Hintergrund erfolgt abschließend ein prägnanter Überblick zur Entstehungsgeschichte der evangelischen Schulen in Ostdeutschland nach der Wende (83 ff.) sowie zu religionssoziologischen Perspektiven auf ostdeutsche Konfessionslosigkeit (85 ff.) und deren Thematisierung im konzeptuellen Diskurs zum evangelischen Schulprofil (94 ff.)

Im dritten Kapitel erfolgt in der Auseinandersetzung mit wesentlichen wissenssoziologischen Theorien und Konzepten eine weitere inhaltliche Spezifizierung des evangelischen Profils als Diskurs. F. wählt den analytischen Zugang der wissenssoziologischen Diskurs-analyse nach Reiner Keller, um das zuvor als Praxis bestimmte evangelische Profil und die Perspektiven der konfessionslosen Schüler- innen und Schüler darauf miteinander in Beziehung zu setzen (100). Auf diese Weise wird das evangelische Profil als »diskursive Praxis« (110) definiert. Um einen Zugang zu dieser diskursiven Praxis zu erhalten, richtet F. den Fokus auf die kollektiven Deutungsmuster der konfessionslosen Schülerinnen und Schüler (117 ff.).

Wie diese Deutungsmuster erhoben werden, zeigt das vierte Kapitel, welches das Forschungsdesign der Arbeit ausführlich reflektiert. Als heuristischer analytischer Zugang dient F. das von Leon Festinger etablierte Konzept der kognitiven Dissonanz, welches auf das Erleben der konfessionslosen Schülerinnen und Schüler an evangelischen Schulen übertragen wird. Deren Dissonanzerleben bestehe in dem Widerspruch, dass sie zwar am evangelischen Profil der Schulen teilhaben, durch ihre eigene Konfessionslosigkeit »aber eigentlich nicht Teil davon sind« (135). Davon ausgehend richtet F. den Blick auf die konkrete schulische Praxis, um soziale Deutungsmuster zu rekonstruieren, mittels derer die Dissonanz bewältigt wird. Als methodologischer Zugang dient dabei eine konstruktivistisch ausgerichtete Grounded Theory (150 ff.). Die Datenerhebung fand mittels halbstrukturierter und leitfadengestützter Einzelinterviews statt, bei denen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Gymnasien und Sekundarschulen in den verschiedenen ostdeutschen Bundesländern ab der siebten Klassenstufe befragt wurden (171).

Der methodische Zugang über Einzelinterviews überrascht zu- nächst, werden die Schüler doch als kollektive Akteurinnen und Akteure im Diskurs verstanden (z. B. 117), sodass andere Methoden wie Gruppendiskussionen, die explizit der Rekonstruktion kollektiver Deutungsmuster dienen, doch naheliegender erscheinen, wenn es darum geht, einen Zugang zur diskursiven Praxis zu finden. Um dennoch von kollektiven Mustern sprechen zu können, vergleicht F. die verschiedenen Interviewprotokolle miteinander, identifiziert Fälle und setzt sie zueinander in Beziehung (177 f.).

Die Ergebnisse dieses Auswertungsprozesses werden im 5. Kapitel – dem Herzstück der Arbeit – präsentiert. Indem sehr anschaulich erst Schlüsselstellen aus dem Material vorgestellt und an- schließend reflektiert werden, können die Leserinnen und Leser die Deutungen der Autorin selbst nachvollziehen. Unter den Schlagworten Annäherung, Enthaltung und Distanzierung diskutiert F. die rekonstruierten Deutungsmuster der konfessionslosen Schülerinnen und Schüler. Diese changieren zwischen Affirmation und Abgrenzung, wobei Ersteres deutlich überwiegt (183). Konkretisiert werden die Deutungsmuster anhand inhaltlicher Kategorien. So gibt etwa die Kategorie »Sozialität« innerhalb des Deutungsmusters »Annäherung« Aufschluss darüber, dass die Schülerinnen und Schüler eine »Verbindung von evangelischem Profil und gutem sozialen Klima« (184) herstellen. Andererseits werden etwa in der Kategorie »Heterogenität« innerhalb des Deutungsmusters »Distanzierung« Sichtweisen aufgezeigt, in denen die »subjektiv erlebte Andersartigkeit gegenüber der profilbedingten Schulkultur« (255) ein negatives Erleben hervorruft. Spannend ist, dass dieselben Faktoren – wie z. B. die mit dem evangelischen Schulprofil verbundenen religiösen Praktiken und Inhalte – sowohl Annäherung als auch Distanzierung befördern können (253 f.). An dieser Stelle wären konkrete schulpraktische Konsequenzen interessant.

Das abschließende sechste Kapitel eröffnet jedoch – nicht minder interessant – weitere theoretische Perspektiven auf die rekonstruierten Deutungen der Schülerinnen und Schüler. So reflektiert F. etwa die Bedeutung von Othering-Prozessen und einer damit einhergehenden Marginalisierung von Konfessionslosigkeit innerhalb des evangelischen Schulprofils (282 ff.). Hierbei ist im Rückgriff auf das empirische Material spannend, dass Kategorien des Deutungsmusters »Distanzierung« ein solches Othering tendenziell reproduzieren, während Kategorien des Deutungsmusters »Annäherung« dies vielfach zurückweisen (288 f.). Vor diesem Hintergrund plädiert F. für mehr Inklusion und etabliert das evangelische Profil als ein Modell der Vielfalt, an dessen Interpretationspraxis auch die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler aktiv partizipieren (297 ff.).

Die sprachlich nicht immer leicht zugängliche Arbeit ist keine Handlungsanleitung zur praktischen Ausgestaltung des evangelischen Schulprofils. Sie besticht vielmehr durch ihre sorgfältigen, macht- und diskurssensiblen theoretischen Reflexionen, die – nicht im ostdeutschen Kontext – für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wichtige Impulse liefern.