Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

762-763

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Henschen, Christoph

Titel/Untertitel:

»Das Eine, was nottut«. Ursprung und Weg der »Erbaulichen Reden« von Sören Kierkegaard.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2022. 218 S. = Arbeiten zur Historischen und Sys-tematischen Theologie, 21. Kart. EUR 59,90. ISBN 9783643150943.

Rezensent:

Ulrich Lincoln

Die Untersuchung ist eine Interpretation der Erbaulichen Reden Kierkegaards. Christoph Henschen grenzt den Begriff der im strengen Sinne Erbaulichen Reden auf die 18 Texte ein, die Kierkegaard zwischen 1843 und 1844 mit diesem Titel sowie unter seinem eigenen Namen veröffentlichte. Die leitende These ist, dass diese Texte einem Grundmotiv folgen, das es erlaubt, den Ursprung sowie die weitere Entwicklung der Erbaulichen Reden innerhalb des schriftstellerischen Gesamtwerks Kierkegaards zu benennen. Dieses Grundmotiv findet H. im Bild der Wüste. In diesem Bild ist einerseits jene Predigt verortet, die am Ende von Entweder/Oder den Begriff des Erbaulichen erstmals ins Spiel bringt. Andererseits klingt in dieser Rede aus der jütländischen Heide erstmals der Leitgedanke der folgenden 18 Erbaulichen Reden an: die Unendlichkeit des Raumes, in welcher »der Einzelne sich als das Unendliche und das Unendliche als der Einzelne ausspricht« (16). Die Metapher der Wüste erläutert H. durch Verweise auf Meister Eckart, der die Wüste als Bereich der Ort- und Gegenstandslosigkeit schildert, darin aber auch als Ort der Gottesbegegnung. Das Wüstenmotiv verweist auf das Wortgeschehen, in dem Gott den Menschen anspricht. Dies ist der theologische Rahmen, in dem H. die Reden verortet. Das Erbauliche ist formal dadurch bestimmt, dass das Positive am Negativen erkennbar wird. Hierin findet der Mensch die Weise, in der seine »unendliche Bezogenheit auf Gott oder die in Freiheit und Liebe gewollte Selbstbindung an die ewige Macht im Unrechthaben vor Gott« (58) Gestalt annehmen kann.

In einem zweiten Kapitel analysiert H. die Erbaulichen Reden ausführlich. Hierfür identifiziert er »Momente des Erbaulichen« in den Texten und rückt dafür die Begriffe Gabe, Besorgnis, Gottesbedürftigkeit, Selbststreit, Wachsen und den Todesgedanken in den Mittelpunkt (101–149). Warum allerdings andere zentrale Motive der Reden wie die Geduld oder die Liebe nicht ebenso aufgenommen werden, bleibt unklar. Der Begriff des Erbaulichen erweist sich zusammenfassend als eine Doppelbewegung »gegen das Endliche und Äußerliche, gegen die irdische Vielfalt und Verschiedenheit und eine Bewegung zum Unendlichen, zu dem göttlichen Einen« (95). Auch methodische Fragen zur Bedeutung der Mitteilungsform (63–88) werden erörtert, allerdings nur in Hinblick auf die Semantik, nicht die Pragmatik des Erbaulichen.

Das dritte Kapitel untersucht das Verhältnis der Erbaulichen Reden zu den Climacus-Schriften. Dafür folgt H. der Deutung der Erbaulichen Reden in der Abschließenden unwissenschaftliche[n] Nachschrift und zeigt die enge Verbindung zwischen den philosophischen Texten und den Erbaulichen Reden auf. Die Berechtigung zu diesem Vorgehen findet H. bei Kierkegaard selbst, der an anderer Stelle die Deutung des Climacus zu bestätigen scheint. Hier zeigt sich ein methodisches Problem: Mit der angeblichen Autorisierung der Climacus-Perspektive durch den Autor Kierkegaard legt H. nahe, dass wir hier die vox ipsissima Kierkegaards hören. Damit wird aber die notwendige Distanz zwischen Pseudonym, Autor und Interpret aufgehoben und die Frage nach der Wahrheit dieser Texte vorschnell auf das eingeschränkt, was scheinbar der Autor selbst als ihre Wahrheit behauptet.

In der Folge geht es H. darum, den Begriff des Erbaulichen mit den Grundlinien der Stadienlehre der Climacus-Schriften zu vermitteln. Die Unterscheidung zwischen Religiosität A (immanent-pathetische Religiosität) und Religiosität B (paradox-christliche Religiosität) führt zu einer Ausweitung der Kategorie des Erbaulichen zum Begriff des Paradox-Erbaulichen (182 ff.). H. zeigt, dass beide Formen des Erbaulichen zwar unterschieden werden müssen, aber zugleich einander voraussetzen. Auch die paradox-erbauliche Glaubensform braucht das Element der Innerlichkeit der vorausgehenden Stufe, denn allein dieser Innerlichkeit gelingt es, den Bezug auf ein geschichtliches Ereignis nicht in einem äußerlichen Sinn misszuverstehen.

Die Abgrenzung der Erbaulichen Reden von anderen Redeformen erscheint sinnvoll. Gleichzeitig aber bleibt der Begriff des Erbaulichen unvollständig, insofern wichtige Ausführungen zu diesem Begriff tatsächlich erst in späteren Werken nach 1845 zu finden sind. Auch die Ausgangsthese, dass das Wüstenmotiv als Ausgangspunkt der Erbaulichen Reden zu gelten hat, steht auf schwachen Füßen. Zu dünn ist die reale Textbasis hierfür. Neben der Wüste gibt es noch zahlreiche andere naturnahe Metaphern in Kierkegaards Werk, mit denen die Unendlichkeit bezeichnet wird (Wasser, Himmel, Echo u. a.). Zentraler Auslöser für die Wüstenmetapher ist H. zufolge ein Besuch Kierkegaards in Jütland. Hier zeigt sich ein Interpretationsverständnis, das den Geltungsanspruch der Texte über das biographisch-psychologische Verhältnis des Autors zu seinen Texten bestimmt.

Die Stärke der Untersuchung liegt dort, wo sie den Begriff des Erbaulichen auf einige Grundgedanken der Climacus-Schriften zu beziehen vermag. Damit leistet sie einen Beitrag zur Erhellung der komplexen Intratextualität im Werk Kierkegaards. Was fehlt, ist u. a. eine Analyse der rhetorischen und sprachpragmatischen Dimensionen der Reden und ihrer literarischen Wirkungsmittel und Strategien. Dass H. sich dieser Debatte entzieht, hat zum einen mit der Nichtbeachtung des Ästhetischen in seiner Interpretation zu tun. Zum anderen macht sich die fehlende Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur spätestens hier bemerkbar. Lediglich am Schluss nimmt H. Stellung zu einigen neueren Interpretationen der Erbaulichen Reden. Doch insbesondere eine Aufnahme der neueren Beiträge zu Kierkegaards Mitteilungstheorie und Rhetorik sowie eine methodische Selbstverortung innerhalb der aktuellen Forschungsliteratur hätten der Untersuchung gutgetan.