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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

760-762

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Goldberg, Michael Nathan, Mauz, Andreas, u. Christiane Tietz [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Missverstehen. Zu einer Urszene der Hermeneutik. = Hermeneutik und Interpretationstheorie, 4.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2023. 240 S. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783506760647.

Rezensent:

Ulrich Körtner

Verstehen versteht sich nicht von selbst. Eine schwache Version von Hermeneutik unterstellt, dass das Verstehen der Normalfall ist, das Missverstehen hingegen die Ausnahme. Wer Schleiermacher folgt, rechnet jedoch damit, dass sich das Missverstehen von selbst ergibt, während das Verstehen eigens gesucht werden muss. Oder um mit Niklas Luhmann zu sprechen: Gelingende Kommunikation ist möglich, aber unwahrscheinlich. In diesem Sinne ist das Missverstehen geradezu eine Urszene der Hermeneutik – so der treffende Untertitel des vorzustellenden Sammelbandes, der auf eine Tagung des Netzwerks Hermeneutik Interpretationstheorie zurückgeht, die im Oktober 2019 in Zürich stattgefunden hat.

Das urszenische Missverstehen veranschaulichen Andreas Mauz und Michael N. Goldberg in ihrer Einleitung (1–27) am Beispiel eines Witzes, dessen Komik darauf beruht, dass es auf gleich mehreren Ebenen zu Missverständnissen kommt. Sie analysieren das Funktionieren des Witzes nach allen Regeln hermeneutischer Kunst, aber auch mit einem sympathischen Sinn für Humor. Wie M. und G. zeigen, ist das Missverstehen deshalb »ein eminent hermeneutisches Phänomen, weil es […] untrennbar mit der normativen Dimension von Verstehensprozessen verbunden ist« (2). Anhand des erzählten Witzes zeichnen die beiden Autoren den Umriss einer allgemeinen »Missverstehenshermeneutik« (3), die noch immer weitgehend ein Desiderat der Forschung ist, wobei nochmals zwischen Missverstehen und Andersverstehen unterschieden wird (18 f.). Missverständnisse können sich unabsichtlich einstellen, aber auch willentlich provoziert und z. B. als Mittel der politischen Rhetorik eingesetzt werden. Kurz: Das Missverstehen ist ein ambiges Phänomen, das seinerseits Anlass für unterschiedliche Weisen des Missverstehens bieten kann.

Nach diesem gelungenen Einstieg ins Thema untersucht Felix Christen anhand von Nietzsches Tragödienschrift, seiner Zarathustradichtung und einer Passage aus Jenseits von Gut und Böse »Logiken des Missverstehens beim späten Nietzsche« (29–43), die sich mit einer Praxis des Missverstehens – also das gezielte misreading (32) – als Strategie des Argumentierens verbinden.

Ausgehend von der Kontroverse zwischen Rudolf Carnap und Martin Heidegger untersucht Moritz Cordes in seinem der analytischen Philosophie zuzurechnenden Beitrag die Phänomene der Pseudosätze sowie des Selbstmissverständnisses (45–69). Seine Methodik der Formalisierung, um Missverständnis aufzuklären, versteht sich klar als Alternative zu herkömmlichen hermeneutischen Verfahren (65).

Lutz Danneberg geht der Frage nach, wie sich das Missverstehen vom Besserverstehen abgrenzen lässt (71–99). Er zeigt, dass jede Vorstellung eines Missverstehens einerseits eine Konzeption dessen, was unter »Bedeutung« zu verstehen ist, und andererseits eine korrespondierende Interpretationskonzeption voraussetzt. In einem historischen Längsschnitt, der bei Luther und den bibelhermeneutischen Fragestellungen der Reformationszeit beginnt, verfolgt D. die Geschichte der Maxime, einen Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst versteht. Während bei der Aufdeckung von Lüge und Verstellung dem Autor Unwahrhaftigkeit unterstellt wird, »setzt das Besserverstehen die Wahrhaftigkeit des Autors voraus« (98). Weil sich die Bedeutungszuschreibung des Interpreten aber nicht an der Intention des Autors, sondern an der verhandelten Sache oder der eigenen Weltsicht orientiert, handelt es sich »beim Besserverstehen eigentlich um ein wohlmeinendes oder als wohlmeinend ausgegebenes Missverstehen« (98).

Anhand von Joh 4 lotet Michael N. Goldberg (101–113) die theologische Dimension des Missverstehens aus, welche mit der Unterscheidung von Glaube und Unglaube verbunden ist. Ist aber der Unglaube nur ein »Missverstehen Gottes« (102) oder nicht vielleicht auch ein tiefsitzendes Unverständnis? Hermeneutisch-theologisch lässt sich zwischen Glauben, bewusstem Unglauben und Nicht-Glauben unterscheiden, ferner zwischen Glauben, Zweifeln und Verzweiflung. Neben einer theologischen Hermeneutik des Missverstehens braucht es darum auch eine Hermeneutik des Unverständnisses. Zustimmung verdient G.s Feststellung, dass eine »einfache Zuordnung von Missverständnis zu Unglauben einer- seits und Verstehen zu Glauben andererseits« zu kurz greift (112).

Setzt die Feststellung, dass ein Missverstehen vorliegt, nicht ihrerseits ein Verstehen dessen voraus, worum es sich beim Missverstehen handelt? Das ist die Frage, der Manuel Padilla Cruz in seinem Beitrag nachgeht (115–142). Sein multiperspektivischer Zugang versucht Erkenntnisse von Pragmatik, Gesprächsanalyse und Psychologie, aber auch von sozialer Epistemologie, Neurowissenschaften und Philosophie des Geistes zusammenzuführen.

Léonard Loew begreift das Verstehen im Sinne einer relationalen Hermeneutik als sozialen Vorgang und schlägt in seinem Beitrag (143–166) vor, »das Missverstehen als Grundlage sozialer Hermeneutik zu begreifen« (143). Auf dem Missverstehen des Missverstehens beruht im Alltag nicht selten das Ideal des Verstehens. Das Zusammenleben funktioniert dann aufgrund eines »Als-ob-Spiels« (161), ohne sicher zu sein, ob wir einander auch tatsächlich verstanden haben.

Cornelia Richter deutet in ihrem Beitrag (167–181) die Hermeneutik als Methode, »die strikt so nach den Bedingungen des Verstehens fragt, dass sie über das Missverstehen hinaus auch mit dem Nichtverstehen rechnet und uns verstehen lässt, wie verstehen, missverstehen und nicht verstehen in Akt und Moment zu verstehen sind« (169). Sie kommt dabei auf Gadamers Hermeneutik zu sprechen, die für die interdisziplinäre Forschung gleichermaßen anregend wie riskant sei, weil Gadamer wohl mit dem Missverstehen, nicht aber mit dem gänzlichen Nichtverstehen rechnet (179).

Anhand von zwei literarischen Werken – I. R. Murray Schafers fingiertem Notizbuch eines Philologen (1984) und Ann Carsons Trauerbuch Nox (2010) untersucht die Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans literarische Strategien eines inszenierten Missverstehens (183–199). In beiden Fällen handelt sich um Bücher über die Arbeit von Philologen, welche »hermeneutische Prozesse unter Einbeziehung der materiellen Bedingungen des Lesens« inszenieren (198).

Den Schlusspunkt setzen im vorliegenden Band die Philosophen Geo Siegwart und Christian Tapp (201–230). Akribisch untersuchen sie mittels der Methodik formaler Logik die Kontroverse zwischen Gaunilo und Anselm v. Canterbury über dessen ontologischen Gottesbeweis. »Zwei kluge Benediktiner-Mönche, zwischen denen bezüglich der verhandelten Grundsatzfrage breites prädiskursives Einverständnis herrscht, werfen sich Ende des 11. Jh.s gegenseitig Absurdität vor« (202). Die relevanten Textpassagen sind anhangsweise auf Lateinisch und Deutsch wiedergegeben (222–230). Die Frage, ob sich Anselm durch Gaunilo zu Recht missverstanden fühlt, findet keine einfache Antwort, weil sich das Problem zur Frage verschiebt, was in den Argumentationsgängen der beiden Kontrahenten jeweils unter Beweiskraft zu verstehen ist (220). Ob Anselms Einwand gegen Gaunilos Interpretation seines ontologischen Gottesbeweises nicht nur formell, sondern auch materiell berechtigt ist, bleibt am Ende offen. So veranschaulicht das Beispiel sehr schön, dass sich bei allem Bemühen nicht nur Missverständnisse nicht aufklären und beseitigen lassen, sondern dass sich bisweilen nicht einmal eindeutig klären lässt, ob überhaupt ein Missverständnis vorliegt oder nicht.

Das Desiderat einer Missverständnishermeneutik, von dem Mauz und Goldberg in ihrer Einleitung gesprochen haben, löst der vorliegende Band zwar nicht erschöpfend ein. Er setzt aber wichtige Schritte auf dem Weg zu einer solchen hermeneutischen Theorie und liefert für die weitere Diskussion durchwegs wertvolle und kenntnisreiche Impulse.