Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

756-757

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bruner, David

Titel/Untertitel:

Eberhard Jüngel on God, Truth, and History. = Dogmatik in der Moderne, 42.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XI, 124 S. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783161607547.

Rezensent:

Robert Martin Jockel

Dieses Buch entspricht seinem Gegenstand. Denn David Bruner hat auf nur rund 120 Seiten einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Theologie Eberhard Jüngels vorgelegt, der selbst oft in kurzen Untersuchungen über den Anfahrtsweg scheinbarer Spezialprobleme Grundfragen der Theologie traktiert hat. So ist auch B.s englischsprachige Arbeit Eberhard Jüngel on God, Truth, and History mit Jüngels Wahrheitsbegriff und durch diese Linse letztlich mit der Gesamtheit von dessen Theologie befasst. Sie geht auf B.s 2018 am Princeton Theological Seminary angenommene Dissertation zurück. Dem Prüfungskomitee gehörten mit Ingolf U. Dalferth, Bruce McCormack und Paul DeHart ausgewiesene Experten zu Jüngels Theologie an. Die Veröffentlichung in der Reihe »Dogmatik in der Moderne« ist ein erfreuliches Zeichen dafür, dass die internationale Vernetzung der Jüngel-Forschung weiter zunimmt.

B.s Leitthese lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: Die Begriffe »God« und »History« sind nicht zuletzt Näherbestimmungen dessen, was Jüngel unter Wahrheit versteht, nämlich das sich zeitlich und geschichtlich vollziehende Ereignis der Offenbarung. Dieses Ereignis geschieht als Zeit und Geschichte in Zeit und Geschichte, ohne aber zu einem Prädikat der Geschichte zu werden. Vielmehr ist Jüngels Wahrheitsverständnis als »eschatological historicism« (4 u. ö.) zu begreifen. Der Begriff »historical« ist dabei im Sinne des deutschen »geschichtlich«, nicht aber im Sinne von »historisch« zu verstehen. Es geht B. gewissermaßen um die Phänomenologie der Wahrheit, nicht um ihren epistemischen Status. Denn diese Wahrheit ist nicht über die Geschichte als solche, sondern allein über deren glaubende Deutung zugänglich. Offenbarung ereignet sich für Jüngel als partikulare Geschichte innerhalb des größeren Geschichtszusammenhangs.

Dieser These geht B. in einer Einleitung und fünf Kapiteln nach, indem er zunächst herausstellt, dass dieses Wahrheitsverständnis bei Jüngel auch unter verschiedenen Synonymen firmiert, allen voran dem des Sprachereignisses. Das erste Kapitel verfolgt dieses Konzept der Hermeneutischen Theologie und weist dabei wichtige Grundzüge des Jüngelschen Wahrheitsbegriffs bereits bei R. Bultmann selbst sowie bei E. Fuchs und G. Ebeling nach. Kapitel zwei untersucht drei »fruitful variations on the word-event theme« (62) und Leitbegriffe der Alethologie Jüngels: Metapher, Anrede und Unterbrechung. Alle drei kommen in dem Grundanliegen überein, das klassische Wahrheitsverständnis der adaequatio intellectus et rei auf einen ihm eigenen Bereich einzuhegen und ihm ein fundamentaleres Verständnis der Wahrheit als Ereignis überzuordnen. B. skizziert zunächst Jüngels Verständnis der Wahrheit als Metapher im Wortsinn: als Selbstübertragung des Seins in die Sprache bedingt die Wahrheit die ursprünglich metaphorische Tiefenstruktur aller Sprache. Diese Selbstübertragung ist sodann ein Ereignis der Anrede als dem basalen Sprach- und Wahrheitsphänomen. Diese Anrede unterbricht, drittens, den alten Lebenszusammenhang des vermeintlich suisuffizient existierenden »cartesianischen« Subjekts (vgl. 51) zugunsten einer Begegnung mit der Wahrheit eines extra se. Sie ruft das auf sich zentrierte Subjekt so aus sich heraus, dass wahres In-der-Welt-Sein als relationales Sein und unter dieser Voraussetzung auch Wahrheit als Korrespondenz von intellectus und res möglich ist.

Kapitel drei geht mit dem Offenbarungsbegriff der materialdogmatischen Entsprechung zum Wahrheitsbegriff nach. Offenbarung ist bei Jüngel einerseits verwurzelt in der gelebten Geschichte Jesu Christi, mit der Gott sich an Ostern identifiziert hat, ereignet sich andererseits stets neu als Entfaltung dieser Geschichte in der Lebensgeschichte der Glaubenden. Kapitel vier zieht daraus den Schluss, dass Wahrheit letztlich ein Gottesprädikat ist und dem für Jüngel gegenüber der Wirklichkeit primären ontologischen Bereich der Möglichkeit angehört. Das zeigt B. an Jüngels Trinitäts- und Gotteslehre, nach der die Geschichte Jesu Christi als Ereignis der ökonomischen Trinität und damit zugleich als Wahrheit der immanenten Trinität selbst zu gelten hat und insofern als Seinsgeschichte Gottes zu stehen kommt, weil Gott seine ureigenen Möglichkeiten in Jesus Christus verwirklicht. Damit ist Gottes Sein selbst als ein Sprachereignis gedacht, welches sich in der anredenden Selbstinterpretation Gottes (vgl. 101) durch die Christusgeschichte kraft des Geistes stets neu ereignet, sodass Gottes Sein eine Sprachlichkeit und Zeitlichkeit eigener Art innewohnen, die sich je in weltlicher Zeit und menschlicher Sprache verwirklichen.

Das abschließende Kapitel fünf bietet zwei kritische Rückfragen an Jüngels Alethologie: Einerseits bleibe die epistemische Seite der Wahrheit unterbelichtet. Es gebe hier – abseits der Platzanweisung an die adaequatio intellectus et rei – kaum Möglichkeiten, den Wahrheitsgehalt verschiedener (vorgeblicher) Wahrheitsereignisse gegeneinander abzuwägen, weil als »eigentlich« wahrheitsfähig nur die metaphorisch-anredende Sprache des Möglichen gelten kann, während die propositionale Aussagewahrheit mit »reiner Wirklichkeit« und also einer ontologisch nachgeordneten Ebene befasst sei. Jüngel verkaufe die konzeptionell-prädikative Begriffssprache unter Wert und lasse zwischen ihr und der metaphorisch-anredenden Sprache auch kaum Nuancen zu. Das sind in der Tat gewichtige Anfragen, umso mehr, wenn man mit B. bedenkt, dass die Erkenntnis der Wahrheit als Sprachereignis ein konzeptuelles Vorwissen doch voraussetzt (vgl. 110). Die überbetonte Sorge vor einer »Vergegenständlichung« der Wahrheit führe Jüngel somit dazu, eine Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in die Alethologie einzuziehen, die mehr Probleme schaffe, als sie löse.

In eine ähnliche Richtung zielt B.s Kritik an Jüngels Gottesbegriff: Ein »exaggerated concern about objectified or metaphysical accounts of divine being« (116) führe zur mangelnden Klärung des Verhältnisses von Gottes Möglichkeiten und Gottes Wissen um diese seine Möglichkeiten. Jüngel lasse »any engagement with a theory of the divine mind, of propositional foreknowledge, in its relation to truth and God’s economy« (113) vermissen. Es komme so zu einer Entscheidungsfrage: »Either Jüngel denies that God possesses exhaustive foreknowledge of these possibilities […]. Or he must explain how possibilities God foreknows can nonetheless be real potentialities to God.« (116) Der Sache nach sind verwandte Optionen in der Forschung bereits häufiger diskutiert worden – etwa als die Frage, inwiefern der Tod (am Kreuz) tatsächlich eine reale Möglichkeit im Leben Gottes darstellt. B.s Zuspitzung auf das Wahrheits- und Allwissenheitsproblem bringt aber eine neue Perspektive in die Debatte ein, unabhängig davon, ob man – wie B. selbst – für die erste Option votiert und meint, dass Jüngels Gott von seinen eigenen Möglichkeiten in aporetischer Weise überrascht werden kann, oder ob man umgekehrt bestreitet, dass Jüngels Gott tatsächliche Möglichkeiten hat. In beiden Fällen lässt B.s abschließender Ausblick (vgl. 116) darauf schließen, dass die Entscheidungen der Trinitäts- und Gotteslehre ein Schlüssel zu Jüngels Theologie auch über deren unmittelbaren Kontext hinaus sind.

So hat diese scharfe Analyse ihren festen Platz in der Erforschung eines Denkens, das selbst allen voran an der Wahrheit interessiert ist.