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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

754-755

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Hösle, Vittorio

Titel/Untertitel:

Goethe und Dickens als christliche Dichter.

Verlag:

Baden-Baden: Karl Alber Verlag (Nomos) 2022. 232 S. = Literatur und Philosophie, 3. Geb. EUR 49,00. ISBN 9783495492253.

Rezensent:

Jan Rohls

Der Titel überrascht zunächst. Zum einen wegen der Zusammenstellung zweier Autoren, die verschiedenen Sprachkulturen angehören und auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Noch mehr überrascht aber zum andern, dass beide Autoren als christliche Dichter miteinander verglichen werden. Das mutet zumindest im Hinblick auf Goethe seltsam an, wenn man bedenkt, dass dieser sich gegenüber Lavater als »dezidirter Nichtkrist« geoutet hatte. Man ist daher gespannt, wie Vittorio Hösle die Bedenken, die der Titel beim Leser auslösen mag, ausräumt. Tatsächlich glaubt er erstens zeigen zu können, dass in einigen von Dickens’ Romanen der Einfluss von Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« spürbar ist. Und zweitens teilen seiner Meinung nach »der umfassendste deutsche Dichter« und »der wohl größte englische Schriftsteller seit Shakespeare« das Interesse, nach der Aufklärung neue Formen christlicher Literatur zu entwickeln (5).

H.s methodischer Ansatz beim Vergleich von Goethe und Dickens unter einem bestimmten Aspekt, nämlich als christliche Dichter, erschließt sich am besten über den Schlussbeitrag seiner Aufsatzsammlung. Es handelt sich um philosophische Reflexionen über den Vergleich von Texten als der basalen Operation der literaturwissenschaftlichen Komparatistik (211). An der Komparatistik ist dem deutsch-italienischen Autor, der an der nordamerikanischen University of Notre Dame Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft lehrt, besonders gelegen, weil sie das Denken in Nationalliteraturen überwindet, das H. für eine ungutes Erbe des Nationalismus hält (232).

Den Vergleich von Literaturen verschiedener Sprachen erachtet er schon deshalb für wichtig, weil der Bezug auf fremdsprachliche Literatur ein Wesensmerkmal vieler literarischer Werke sei (217). Intertextualität könne allerdings in verschiedener Stärke vorliegen. So meint er etwa in seinem Aufsatz über den religiösen Hintergrund von Dickens’ Roman »Great Expectations«, dass die Handlungen seines Protagonisten Pip die Mt 25 aufgeführten sechs Werke der Barmherzigkeit seien (229.106). Pip wird zudem als verlorener Sohn geschildert, den sein Schwager, der gütige Dorfschmied Joe – »this gentle Christian man« –, wie im lukanischen Gleichnis der Vater seinen Sohn mit Liebe aufnimmt (114 f.). H. hält »Great Expectations« für den wohl besten Roman des Autors und für ein Dokument seiner rationalistischen Deutung des Christentums, die sich in »The Life of Our Lord« an Jesus als »Lehrer und Vorbild des moralischen Lebens« orientiere (102). Der Roman lasse sich aber auch als »ironische Abrechnung« mit Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« lesen (138). Zwar könne man nicht beweisen, dass Dickens den Bildungsroman gelesen habe, doch dürfte er ihn schon dank seiner Freundschaft mit Carlyle, seinem Übersetzer, gekannt haben.

Nur auf den ersten Blick erscheine »Wilhelm Meister« religiöser als Dickens’ Roman, dem so etwas wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele« fehle. Denn während Goethe diesem Zeugnis eines pietistischen Christentums distanziert gegenüberstehe und die christliche Religion letztlich in eine Kunstreligion überführe, die auch pagane antike Wurzeln habe, vermittle Dickens seinen Lesern Grundgedanken des Evangeliums (149). »Dickens’ Aneignung des Christentums ist moralischer, nicht ästhetischer Natur und dadurch dem Evangelium näher.« (155)

Goethes Kunstreligion beschreibt H. eindrücklich anhand der »Italienischen Reise«, in der der Dichter entscheidende Handlungen auf bedeutsame Tage des Kirchenjahres lege und sich dadurch eine Christus-ähnliche Rolle zuschreibe (77). Grundsätzlich habe er Autobiographien eine religiöse Funktion attestiert, insofern er sie als protestantische Alternative zur katholischen Beichte verstanden habe. Der Romaufenthalt wurde von Goethe als Wiedergeburt gedeutet, vermittelt durch die ihrerseits religiös interpretierte ästhetische Erfahrung, die Begegnung mit der Kunst der Antike und der Renaissance (84 f.). H. ist daran gelegen, die Aufrichtigkeit der Religiosität Goethes zu betonen, die während seines römischen Aufenthalts nicht zuletzt durch Karl Philipp Moritz’ Ästhetik und Herders neospinozistischen Gottesbegriff geprägt war und Gott nicht nur in der Natur, sondern auch in der Menschheitsgeschichte und in der großen Kunst präsent sah (86). Goethes häufiger Gebrauch von Bibelzitaten gilt ihm als Anzeichen dafür, dass er wie Herder, Lessing, Schelling und Hegel die eigene Umgestaltung der christlichen Tradition durchaus als deren gewissenhafte Fortsetzung empfand (89).

H. nennt zwar die nur oberflächliche Kenntnis der Antike als Grund, weshalb dem englischen anders als dem deutschen Autor der Rückgriff auf antike Gehalte als »Gegengift gegen negative Aspekte des Christentums« intellektuell gar nicht möglich gewesen sei (19). Aber bei beiden protestantischen Dichtern sei die Bibel die Grundlage ihrer literarischen Bildung gewesen. Goethes Selbstbezeichnung als »dezidirter Nichtkrist« hält H. das späte Bekenntnis des Dichters, dass der menschliche Geist nicht über die hohe sittliche Kultur des Christentums hinauskommen werde, entgegen. Bei aller Kritik an zentralen Dogmen des orthodoxen Luthertums wie auch am pietistischen Sündenbewusstsein sei sein Eintreten für moralische Werte doch weitgehend christlich inspiriert (26). Er vertrete ein durch die aufklärerische Kritik geläutertes Christentum, das auch für die Repräsentanten des Deutschen Idealismus charakteristisch sei. Dickens hingegen sei in seiner Kritik der traditionellen Dogmen des Anglikanismus durch den zeitgenössischen Unitarismus beeinflusst und führe das Christentum auf moralische Gebote zurück (37). Zwar sei sein eigenes Christentum nicht so intellektuell komplex wie dasjenige Goethes, aber es übertreffe es mit seiner moralisch-sozialkritischen Ausrichtung und seiner Kritik der religiösen Heuchelei in seiner emotionalen Intensität (38–42). H. geht nicht nur der Frage des Einflusses von Goethe auf Dickens und Parallelen zwischen einzelnen Gestalten ihrer Romane nach. Er zeigt am Beispiel des »Vicar von Wakefield« von Goldsmith auch den Einfluss englischer Romane auf Goethe.

Der Vergleich zwischen dem Weimarer Dichter und dem Romancier des Viktorianischen Zeitalters gerade unter dem Aspekt der Christlichkeit erweist sich als überraschend fruchtbar. Wie heißt es doch bei H.: »Für ein Christentum des Geistes und des Herzens sind Goethe und Dickens zwei sehr verschiedene, aber letztlich komplementäre Leitbilder.« (46)