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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

751-754

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bußler, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Ecclesia und Synagoga und der Mönchengladbacher Tragaltar. Judentum und Christentum in Kunst und Kirche.

Verlag:

Aachen: Verlag Mainz 2023. 204 S. Kart. EUR 19,80. ISBN 9783863170561.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Auf den ersten Blick fügt sich diese Publikation dem Genre illustrierter Kunstführer ein, wie sie für die meisten Kirchen mit achtbarer Baugeschichte und wertvoller Ausstattung üblich sind. Der zweite Blick offenbart jedoch, dass ihr Anliegen weit darüber hinausgeht. Zwar ist der Tragaltar aus dem 12. Jh., den das Münster St. Vitus in Mönchengladbach beherbergt, Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt des Bandes. Doch ausgehend von Ecclesia und Synagoga, die zu den auffälligsten Bildelementen des Tragaltars gehören, öffnet sich sogleich ein weiter Blick auf die lange und wechselvolle Geschichte dieser besonderen Figurengruppe, der auch die Um- und Irrwege des Miteinanders von Christen und Juden bis in die unmittelbare Gegenwart hinein wahrnimmt. Darüber nachzudenken ist eine Herausforderung, die sachgemäß immer nur vor Ort und am konkreten Objekt beginnen kann.

Mit seiner Arbeit ist Wolfgang Bußler den Aufbrüchen des christlich-jüdischen Dialoges verpflichtet, in diesem Falle von Seiten der katholischen Theologie. Als Bezugspunkt fungiert die Erklärung »Nostra aetate« (1965), die während des 2. Vatikanischen Konzils einen Neubeginn markiert; Beachtung finden indessen auch Erklärungen und Synodalbeschlüsse der evangelischen Kirchen. In der Hauptsache aber geht es dem Autor um die Beziehung zwischen Kirche und Judentum, wie sie von Ecclesia und Synagoga als allegorischen Figuren vor Augen geführt wird. Dazu dienen Bild und Text, wobei der Textteil weniger exegetische oder kulturgeschichtliche Analysen als eine kundige Blütenlese prominenter, aussagekräftiger Beiträge präsentiert.

Der Tragaltar (21 cm x 29,5cm x 15,7 cm), ein Meisterwerk mittelalterlicher Goldschmiedekunst, zeichnet sich durch eine Reihe szenischer Darstellungen in Grubenschmelz-Technik aus. Auf der Deckplatte stehen einander die Bindung Isaaks und die Kreuzigung Jesu gegenüber, flankiert von den Paaren Melchisedek und Abel, Mose und Hiob, Sacharja und Jesaja – sowie Ecclesia und Synagoga. Letztere rahmen (wie auch sonst häufig zu finden) die Kreuzigung. Beide Figuren sitzen auf einer Art Sphaira und sind dem Betrachter frontal zugewandt: die Ecclesia mit Nimbus, Krone, Kreuzstab und Kelch, die Synagoga mit Lanze und Ysop, Schleier/Binde und Gesetzestafeln. An den Längsseiten des Kastens befinden sich zwölf Apostel, an den Stirnseiten eine jeweils dreigeteilte Oster- und Parusie-Darstellung.

Ecclesia und Synagoga stehen im Zentrum des Interesses. Wie ist ihre Gestaltung auf dem Tragaltar zu interpretieren? Seit dem Aufkommen dieser Figurenkonstellation im 4./5. Jh. und ihrer Popularisierung seit dem 9. Jh. verbindet sich damit vor allem ein massiver antijüdischer Impuls. Die folgenden Ausführungen bemühen sich um eine differenzierte Sicht. Unterschieden werden fünf Phasen mit jeweils eigener Akzentsetzung.

1) Die frühe Phase ist von dem Gedanken der »Concordia« zwischen Altem/Neuem Testament nach dem Modell typologischer Exegese bestimmt und enthält Beispiele einer kommunikativen Beziehung; hier wären allerdings die theologischen Implikationen einer solchen »Typologie« noch einmal kritisch zu hinterfragen. 2) Es folgt eine lange »diskriminierende« Phase, in der stereotype Bildelemente vorherrschen: die Synagoga trägt eine Augenbinde; sie wird gedemütigt, weggestoßen oder niedergedrückt; mitunter wird ihr die Krone vom Haupt geschlagen; sie muss sich den »törichten Jungfrauen« oder »Frau Welt« zugesellen; sie findet sich liegend unter den Füßen der triumphierenden Ecclesia oder auf einem Esel reitend im aussichtslosen Turnierkampf. 3) In Renaissance und Barock kommen neue Konstellationen auf, die das Thema variieren: Lea und Rahel, Mose und Sibylla, Ecclesia auch schon ganz ohne Synagoga; die grundsätzliche Abwertung trägt dabei weiterhin den Ton. 4) Das 19./20. Jh. kehrt zu den alten Kontrastbildern zurück, mittlerweile vom aufkommenden Antisemitismus genährt. 5) Nach der Shoa hat sich das Bildthema noch immer nicht erschöpft und bringt irritierend gedankenlose Neuauflagen der alten Muster hervor. Doch erstmals kommt es nun auch zu Versuchen, in beiden Figuren Schwesterlichkeit und Dialog zur Anschauung zu brin- gen – wie in der berühmten Skulptur von Joshua Koffmann auf dem Gelände der St. Joseph’s University in Philadelphia.

Angesichts der vielgestaltigen Bildwelten springt eine Leerstelle des Buches besonders ins Auge, deren Füllung sein Format freilich sprengen müsste: Der breite Strom der christlichen »Adversus-Judaeos-Literatur« (von Heinz Schreckenberg gesammelt und ausgewertet) ist ja weit mehr als nur Hintergrundrauschen der Bildtraditionen. Diese Traktate sind es, die den christlichen Antijudaismus tief in Theologie und Volksfrömmigkeit verankern und für die Selbstverständlichkeit sorgen, mit der die Figurengruppe von Ecclesia und Synagoga kolportiert wird. Die »Enterbungslehre«, die seit der Väterzeit vorherrscht, ist nicht nur zu bedauern oder zu relativieren. Sie ist als Irrweg entschlossen abzuweisen. An ihre Stelle tritt heute das Wissen um die »bleibende Erwählung Israels« – die Augenbinden, zerbrochene Lanzen, fortgerissene Kronen oder gesenkte Häupter nicht mehr duldet. Dazu hat auch die »neue Paulusperspektive«, die letztlich eine neue Perspektive auf das Judentum ist, entscheidend beigetragen. Gefragt ist ein geschärftes Problembewusstsein, das Missverständnisse gar nicht erst aufkommen lässt.

Das betrifft auch die Spiegelung der Figurengruppe in der Belletristik. Die gelegentliche Sympathie, die hier gerade der Synagoga zuteil wird, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Gegensätzlichkeit beider Figuren kaum in Frage gestellt und damit weiter verfestigt wird. Doch es geht hier nicht um ein bisschen mehr an Sensibilität, sondern um ein grundlegendes Umdenken- eine »Umkehr« im Vollsinn des biblischen Begriffs. Ecclesia und Synagoga überhaupt in einen Gegensatz gebracht zu haben ist das entscheidende Problem: Paul Celans »Todesfuge« von 1947 (»... dein goldenes Haar Margarete/dein aschenes Haar Sulamith«) weiß um die Konsequenzen. Dieser Lernweg führt auch vor dem Tragaltar zu dem einzigen Modus einer theologisch verantworteten Begegnung: dem des Dialoges.

Wie weit ein solcher Weg noch ist, zeigt etwa das moderne Kreuzigungsrelief am Ambo des Mönchengladbacher Münsters von 1991 (!), das Ecclesia und Synagoga erneut im alten Kontrast präsentiert. Es hat ein Pendant in der neu aufgelegten Karfreitagsfürbitte (2007), die wieder hinter »Nostra aetate« zurückfällt. Beides wird von B. kritisch evaluiert. Doch wie lässt sich mit den Hinterlassenschaften aus früheren Phasen umgehen? Können die Figuren des Tragaltars jener ersten Phase der »Übereinstimmung« zugeordnet werden? Und wie ließe sich das für eine neue Bewertung von Ecclesia und Synagoga in unserer Zeit fruchtbar machen? Hier bleiben viele Fragezeichen stehen. Man wird einer »Concordia« beider Figuren kaum zustimmen können, solange die Synagoga noch die Leidenswerkzeuge Jesu in der Hand hält und damit die unselige, theologisch zudem falsch gestellte »Schuldfrage« aufwirft. Hier braucht es ganz neue Ansätze, für die etwa die am Schluss vorgestellten »Zwillingsfiguren« von Ecclesia und Synagoga vor dem Kirchenamt in Hannover ein markantes Beispiel bieten.

Das Buch trägt zusammen, stellt Bezüge her, legt den Finger in Wunden und öffnet neue Durchblicke. Dankbar benutzt man die Literatursammlung am Schluss, die einen reichen Fundus darstellt. Im Ganzen 106 gediegene Abbildungen leuchten die Thematik weiträumig aus und lassen die Fülle des Materials erahnen. Vor allem aber führen sie ihr Lesepublikum zurück in das eigene Umfeld und schärfen die Sinne für das, was vor der Haustür liegt. Denn das christlich-jüdische Gespräch ist kein Gegenstand abstrakter Überlegungen. Es gewinnt nur da Gestalt, wo es im Alltag geführt und am Umgang mit dem eigenen Erbe verantwortet wird. Dazu von Neuem »angestiftet« zu haben, ist das große Verdienst des Autors.