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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

745-747

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schauer, Alexandra

Titel/Untertitel:

Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp 2023. 704 S. m. zahlr. Abb. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2373. Kart. ISBN 9783518299739.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Mit ihrem umfangreichen Werk legt Alexandra Schauer ihre Dissertation am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist, vor. In drei umfangreichen Durchgängen durch die Entwicklung der modernen und spätmodernen Welt – fokussiert auf »Zeit und Geschichte« (Zeitlichkeit), »Öffentlichkeit« (Mitwelt) und die »Stadt« (Umwelt), jeweils gut 200 Seiten – wird die These durchgespielt, der gemäß der heutige Mensch einer »ohne Welt« sei – und deswegen prinzipiell entfremdet und höchst resonanzbedürftig. S. liefert auf diese Weise eine historisch – panoramatisch angelegte »Genealogie« der Resonanz – Thesen Hartmut Rosas (aber auch der Anerkennungstheorie Axel Honneths). Es geht um etwas ganz Grundsätzliches: um die (politische) Handlungsfähigkeit von Menschen überhaupt. »Eine Welt entsteht dort, wo sich Menschen miteinander verständigen, sich über ihre Erfahrungen austauschen und gemeinsam handeln. Damit sie zum Leben erwacht, müssen die Menschen nicht nur um ihre Handlungsmacht wissen, sondern sich zudem um eine aktive Vermittlung ihrer Interessen bemühen.« Eine Welt stellt mithin eine Übersetzungsleistung zwischen den einen und den anderen, dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen Selbst und Welt dar. Zerfällt sie, zerbricht die Voraussetzung sozialer Gestaltung als solche: Menschen könnten dann nicht einmal mehr ihr eigenes Leben erzählend verarbeiten, es blieben nur nebeneinander liegende Fragmente erhalten. S.s These ist mithin an Dramatik kaum zu übertreffen. Die Gesellschaft treibt auf ihren Niedergang zu.

Mit der These von der Weltlosigkeit des Menschen bringt S. die aktuelle Krisenerfahrung auf den Punkt: das Gefühl, dass da nichts mehr ist, was die Gesellschaft noch zusammenhält, weder ein geteiltes Zeitgefühl, noch eine gemeinsame Öffentlichkeit und schon gar nicht eine funktionierende Stadtgesellschaft. Mit Welt ist hier das den Menschen Gemeinsame, der sensus communis gemeint, wie S. im Blick auf Kant und Hannah Arendt bestimmt, also die Tatsache des Lebens mit Anderen. »Mensch ohne Welt soll heißen: in der Gegenwart geht das Verständnis dafür verloren, wie das Leben des Einzelnen mit dem Leben der anderen durch ein Beziehungsgeflecht verbunden ist, das durch gemeinsames Handeln gestaltet werden kann.« Und weiter: »Die Aufwertung des Singulären und Spektakulären, des Besonderen und Einzigartigen weist auf den Bedeutungsverlust der Welt als Ort kollektiver Selbstverständigung hin. Statt sich in dieser Sphäre zu engagieren, zieht sich der Mensch in das innere Universum seines Erlebens zurück.« Um diese These zu belegen, wird zunächst der Übergang von der Vormoderne zur Moderne als eine Zeit der Entdeckung und Aneignung der Welt beschrieben, in der die Gesellschaft zum ersten Mal in der Geschichte als gestaltbar erscheint. Der Übergang in die Post- moderne führt dann allerdings zum Rückzug in die Vereinzelung und in den Prozess der Selbstoptimierung. »Entdeckung von Welt bedeutet Bewusstwerdung der kollektiven Existenz« und damit Erschließung eines Raumes gemeinsamen Handelns, der nun allerdings verloren geht. Damit wird Entfremdung strukturell und Resonanz als Transformation aus solchen Bedingungen ist geradezu existentiell gefordert. Und so endet das opus magnum mit einem Adorno-Zitat und dem Satz: »Versuchen wir, was unmöglich erscheint, retten wir das Mögliche!« Denn es ist die Möglichkeit einer anderen Welt überhaupt, die in der Postmoderne verschwindet.

In ihren drei Gängen durch die Entwicklungen von Vormoderne, Moderne und Postmoderne wendet S. ein »konstellatives Verfahren« an, indem sie ein Mosaik aus hunderten Berichten und Ansichten zusammenfügt, »durch das sich die Gegenwart als Bild enthüllt« – ähnlich den Weberschen Idealtypen gerade in Überzeichnung und Übertreibung. Dieses Verfahren führt zu einer enormen Informationsdichte und einem assoziativen Benennen kausaler Zusammenhänge. Ein Beispiel: »Weil es dem spätmodernen Menschen immer schwerer fällt, zwischen dem zu unterscheiden, was er beeinflussen kann, und dem, was sich seiner Handlungsmacht entzieht, laboriert er nicht mehr an der Gesellschaft, sondern an sich selbst.« Und die Folge dann: »Die äußere Kehrseite dieser manchmal bis zum Selbsthass gesteigerten Selbstzweifel ist, dass man sich auch für das Schicksal der anderen nicht mehr erwärmen kann.« Noch komplexer etwas später: »Im spätmodernen Gesellschaftsvertrag geht die fortschreitende Privatisierung von Ambivalenz eine Liaison mit der Logik des Ressentiments ein. Aus seiner Perspektive haben sich Schulabbrecher, Arme und Obdachlose doppelt schuldig gemacht«: die eigene Zukunft verbaut und sich am Wohl der Gemeinschaft vergangen. Wie privatisiert sich Ambivalenz und wie liiert sich dieses Phänomen? Belege werden nicht beigebracht, stattdessen wird gerne zitiert: »Die Wahrnehmung eines linearen Fortschreitens ist zur Ausnahme und das Gefühl des ›rasenden Stillstandes‹ (Hartmut Rosa) zur Regel geworden.« Statt Hoffnung in eine bessere Zukunft zu setzen, kippt die Utopie ins Risiko. Politik war einstmals an Zukunftsorientierung gebunden: heute sei unklar, was das ist.

Das Ergebnis lautet: »Als Weltverlust lässt sich diese Entwicklung nicht nur insofern verstehen, als sie von einem Bedeutungsverlust der Öffentlichkeit als Ort politischer Weltgestaltung begleitet wird. Zudem trägt sie zur ›Zerschlagung‹ des in der Moderne entstandenen kollektiven Erfahrungsraums ›ins Persönliche‹ bei. In der Folge gelingt es dem Individuum immer weniger, sein Leben im Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse zu betrachten. Stattdessen fühlt es sich auch dann noch für sein Schicksal verantwortlich, wenn es selbst es am wenigsten war, das darüber entscheiden konnte.« Bitte?

Der Anspruch dieses Werkes ist allumfassend: Erklärt wird die moderne und postmoderne Welt. Geht die Rechnung auf? S. bemüht eine ungeheure Materialmenge, die sie allerdings weniger argumentativ, eher suggestiv sortiert – oder besser: komponiert. Es geht ihr wohl auch gar nicht um einzelne Kausalketten als solche, sondern die umfassende Illustration ihrer Grundthese vom Ende der Welt der Menschen. Da war einmal die große Verheißung: geblieben ist nur selbstzerstörerischer Individualismus und rückwärtsgewandter Kollektivismus, getarnt als verlogene Eigenverantwortung, betrügerische Unverwechselbarkeit, erzwungene Kreativität und falsches Engagement. Was einstmals die Erfahrung einer Sache war, bestünde nun nur noch in der Funktionalisierung für das Interesse. Die Welt ist folglich aus den Fugen: Es fällt sogar schwer, überhaupt noch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein irgendwie tragfähiges Verhältnis zu bringen, behauptet S.

Aber letztlich beißt sich die Katze in den Schwanz, denn die Plausibilität des Ganzen beruht auf den Kompositionsleistungen S.s, die ihr Leitthema bei jeder Gelegenheit wiederholt. Wirkliche Kritik wäre nur mittels eines umfassenden alternativen Narrativs möglich. S. misst die Gegenwart vergeblich an den Verheißungen der bürgerlichen Vergangenheit. Das war schon die Idee Horkheimers und Adornos. Aber stimmt denn dieser Maßstab überhaupt? Könnte es nicht ganz anders sein?