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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

741-742

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dober, Hans Martin

Titel/Untertitel:

Cohen-Studien im Horizont von Religion und Theologie.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2022. 210 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783826075995.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Hans Martin Dobers Cohen-Studien enthalten, hinter dem Titel verborgen, nichts weniger als eine anspruchsvolle und plausible Deutung von Grundeinstellungen und Perspektiven des großen Marburger Neukantianers. Hermann Cohens Philosophie zeichnet sich durch einen eigentümlichen systematischen Spagat aus. Einerseits verficht Cohen die Idee der Reinheit der philosophischen Kategorien; ein Vorhaben, das sich bereits in den Titeln seiner Hauptwerke ausspricht, der »Logik der reinen Erkenntnis«, der »Ethik des reinen Willens« und der »Ästhetik des reinen Gefühls«.

Nun ist aber dieses transzendentalphilosophische Maximum andererseits und konsequenterweise mit der empirischen Vielfalt der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, der sittlichen Konzeptionen und Haltungen sowie der Hervorbringungen der Kunst verbunden. Es sind, in diesem Geflecht, stets die philosophischen Kategorien, die das tatsächliche Verstehen leiten. In diesem Prozess des Verstehens öffnet sich gewissermaßen eine freie Mitte, in der die Vorgänge der Verständigung sich ereignen. Um diese Mitte aber nicht unbestimmt zu lassen, wird deren Verfassung im Blick auf die Einheit der Seele in der Psychologie und den Bezug auf Gott in den Ausdrucksformen der Religion erörtert. Der »Horizont von Religion und Theologie« ist insofern durchaus produktiv erkenntnisleitend für D.s Cohen-Interpretation.

Der Grundbegriff für das Mit- und Zueinander von Seele und Gott lautet bei Cohen »Korrelation«. Man wird die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht einfach begriffslogisch ermessen können; es gehört vielmehr zu dessen Signatur, dass er immer wieder und aus verschiedener Betrachtung als Ankerpunkt unterschiedlicher theoretischer, praktischer und ästhetischer Erörterungen auftaucht; nur daraus ist sein Rang zu erkennen.

D. geht diesen Konstellationen in aufmerksamer und genauer Erörterung nach. Am Anfang steht eine Verortung Cohens in den historischen Diskursen über die Moderne. Es ist eben der auf jede Fortschrittsdialektik verzichtende, aber auch die destruktive Überbietung vermeidende Gedanke der in allen geschichtlichen Bewegungen der Moderne stattfindenden grundlegenden Korrelation von Seele und Gott, die die begonnenen Verständigungsprozesse weiterlaufen lässt – anders als das bei Karl Marx oder Friedrich Nietzsche der Fall ist (17–36). Damit dieser diskursive Prozess aber weiterlaufen kann, muss auf alle Anmutungen von Prädestination im Namen der Freiheit verzichtet werden; in diesem Sinne stellt D. Cohens Luther-Deutung dar (37–59). Vielmehr eröffnet sich unter dem Spannungsbogen der Korrelation das gegenseitige Anerkennungsgeflecht der Toleranz, wie man es mit Cohen an Lessing studieren kann (61–74). Wenn es dann um die Pflege des eigenen Lebens und die Gestaltung der eigenen Lebensführung geht, so kann und darf man auf den bisweilen unterschätzten Gedanken der Tugend zurückgreifen, wie er bei Cohen entfaltet wird; zu dieser Perspektive kann auch die christliche Predigt ihren Teil beitragen. Die Tugend hilft zu einer Konstanz, ohne prinzipiell über Gelingen oder Misslingen urteilen zu müssen (75–87).

Ihren systematischen Kern erreichen D.s Ausführungen in den beiden Aufsätzen über das Gebet. Denn im Gebet wird die mit Korrelation gemeinte Beziehung vom humanen Subjekt selbst aufgebaut und gepflegt. Betend fasst ein Mensch sein eigenes Dasein zusammen; er weiß um seine Endlichkeit und Abhängigkeit – und richtet diese auf den allein tragenden Grund seines Lebens aus (89–104). Wenn es zu dieser Sammlung und Verdichtung im Gegenüber zu Gott kommt, dann bedeutet bereits dies eine Reinigung, eine Katharsis der Seele (105–116). Die Korrelation entfaltet damit ihre konstruktive und ihre kritische Seite in eins.

Dieses doppelte Verhältnis bestimmt dann auch die Ausdrucksformen, derer sich die Subjekte bedienen, um ihre Existenz und Beschaffenheit darzutun; hier geht es um das Verhältnis von Religion und Kunst. Die Kunst, auch die religiöse Kunst, muss nach Cohens Einschätzung davon freigehalten werden, irgendwelche vorgreifenden Vollkommenheitsabsichten zur Darstellung bringen zu wollen. Kunst bleibt auf die noch ausstehende Vollendung der Humanität bezogen; wenn religiöse Kunst diese vorwegnehmen wollte, verliert sie ihr inspirierendes Moment (117–129). Das gilt auch für Christusbilder; Cohen hält an ihnen fest, dass sie im Entscheidenden die Präsenz des Leidens zur Geltung bringen – und damit den Blick offenhalten auf die Beendigung des Leidens. Es bleibt eben alles, auch die Kunst, im Prozess begriffen auf das Ziel der Humanität hin (130–148). Das ist aber noch nicht erreicht – und es gibt eine Haltung, die darauf sich einzustellen und damit umzugehen vermag: der Humor. Im Unterschied zum Witz, der Spannung ableitet, indem er sie zum Platzen bringt, stellt sich der Humor als verständige, entspannte Begleitung des Unvollkommenen auf dem Weg zu seiner verheißenen Vollkommenheit dar (149–160).

Nicht ohne Grund beschäftigt sich D. im ausführlichsten Text des Buches mit Cohens nicht geschriebener Psychologie. Das Werk hätte es sich zur Aufgabe machen müssen, die empirischen Schwankungen des Erlebens auf dem Grunde einer ihre Einheit suchenden Seele vorstellig zu machen. Es hätte damit die Operationsbasis all der Vollzüge, die in den systematischen Teilen der Philosophie Cohens tätig werden, umreißen müssen. Damit wäre die Psychologie nun aber als eine subjektive Entsprechung zu den geschichtlichen Phänomenen der Religion zu werten gewesen. Auch die Religion besitzt nach Cohens Auffassung keinen eigenen systematischen Status im System der Philosophie, kommt aber als Aktionsbereich von Vorstellungen und Orientierungen immer wieder mit ins Spiel. D. vermag, indem er die Spuren zu einer Psychologie im Werk Cohens aufsammelt, deutlich herauszuarbeiten, wie sehr die Seele, dieses Aktionszentrum des humanen Lebens, eine beständige Suche nach sich selbst im Horizont der Korrelation mit Gott vornimmt – und es ist ebendiese Korrelation, die als Verheißung der noch nicht erreichten Zukunft ihre Kraft entfal-tet (160–200).

Hans Martin D.s Cohen-Interpretationen besitzen, neben ihren aufschlussreichen Einsichten zum Werk des großen Marburger Philosophen, darin einen besonderen Reiz, dass es ihm gelingt, die Akzente Cohens im Kontext der intellektuellen Zeitgeschichte zu verorten; die Auseinandersetzung etwa mit Sigmund Freud durchzieht weite Teile des Buches. Und sie eröffnen, über die his-torischen Kontextualisierungen hinaus, auch einen Blick auf die Verfasstheit der christlichen Theologie. Auch sie sollte, nach D.s Urteil, sich von Cohen dazu anregen lassen, das Christsein als einen Lebensweg zu verstehen und diesen Lebensweg praktisch zu begleiten. In diesem Sinn, so wird man D.s Auffassung zuspitzen können, vermag die christliche Theologie von dem jüdischen Philosophen durchaus zu lernen.

D.s Buch lässt sich auch als Skizze einer lebensgeschichtlich orientierten Praktischen Theologie lesen.