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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

735-737

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Schröder, Johannes

Titel/Untertitel:

Waches Gewissen – Aufruf zum Widerstand. Reden und Predigten eines Wehrmachtpfarrers aus sowjetischer Gefangenschaft 1943–1945. M. e. Geleitwort v. Bischof Gerhard Ulrich. Hgg. v. Ch. Godt, P. Godt, H. Lehmann, S. Lehmann u. H. Schjörring.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2021. 400 S. m. 15 Abb. Geb. EUR 29,90. ISBN 9783835350243.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Vorab: Dieses ist ein sehr schön und aufwendig gestaltetes Buch, das man gern in die Hand nimmt. – Der Band enthält die Predigten und Rundfunkansprachen, die der Wehrmachtspfarrer Johannes Schröder nach seiner Gefangennahme in Stalingrad in den Jahren 1943–1945 als Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland gehalten hat. Die beiden Mitherausgeber Christiane und Peter Godt sind Tochter und Schwiegersohn von S. Dem Band ist am Anfang ein Geleitwort des ehemaligen Bischofs der Nordkirche, Gerhard Ulrich, beigegeben (7–14). Ulrich schreibt: »[Dieses Buch] bricht übrigens auch das Schweigen über das entsetzliche Grauen und das Leiden, das S. selbst erfahren hat und das er seiner Familie verordnet hatte und das zu Konflikten auch in der Familie geführt haben wird […].« (8) Der Band eröffnet also den Lesern die Möglichkeit, die umstrittenen Texte selbst zu lesen, sich darüber ein eigenständiges Urteil zu bilden. Dabei bezieht sich der Bischof neben der innerfamiliären Kritik, die privat bleibt, auf das Verhalten der klerikalen Verwaltung und der Kirchenleitung, aber auch auf die Kritik am Nationalkomitee, die innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung geübt wird.

Der Band enthält neben den in Anmerkungen ausführlich kommentierten Predigten und Rundfunkansprachen mehrere erläuternde Beiträge, die alle auf eine Neubewertung von S.s Texten und seiner Tätigkeit angelegt sind. In der biographischen Einleitung (21 ff.) gibt Peter Godt die Richtung vor: »Johannes Schröders Predigten und Ansprachen lese ich, als wären sie Vorarbeiten zu diesem für die evangelischen Christen so wichtigen [Stuttgarter] Schuld-Bekenntnis.« (12)

S. (1909–1990) studierte Theologie bei Paul Althaus und Werner Elert in Erlangen. Nach den beiden Examina wurde er Mitglied der Bekennenden Kirche. Ab 1938 arbeitete er als Wehrmachtspfarrer, im Weltkrieg dann als Divisionspfarrer in Frankreich, Polen und Russland. Am 31.1.1943 geriet er in Stalingrad in russische Gefangenschaft. Als Gefangener trat er dem Nationalkomitee bei, ebenso dessen Kirchlichem Arbeitskreis. Als dessen Mitglied hielt er insgesamt achtzig Rundfunkpredigten und -ansprachen, die den Quellenteil des Buches ausmachen. Nach der Verschärfung der Gesetze zur Sippenhaft in der Folge des Attentats vom 20. Juli wurde S.s Familie in Deutschland interniert und nach Italien gebracht (44). Nach Kriegsende kam S. über Berlin nach Schleswig-Holstein zurück. Die kirchliche Bürokratie begegnete S. kontinuierlich mit großem Misstrauen. Er wurde Pfarrer in Neumünster und 1955 Sozialpastor der Landeskirche. S. starb 1990.

Auf die biographische Einleitung folgt der Abdruck der Predigten und Ansprachen (81–330). Diese sind verständlicherweise geprägt durch die Forderung nach Kapitulation der Nationalsozialisten und durch die rigorose Ablehnung von deren Ideologie. Dennoch versteht sich S. nicht als politischer Theologe, und er lehnt eine Politisierung der Kirche ab (81). In den Predigten gelingen ihm eindrucksvolle Passagen, besonders in einer Weihnachtspredigt, in der er von den Kämpfen bei Stalingrad erzählt. Er schildert das Gespräch mit einem Soldaten. Über ihn heißt es: »Plötzlich spricht er wieder; aber nun mit völlig tonloser Stimme: ›Herr Pfarrer, ich kann nicht mehr Weihnachten feiern, – Gott ist für mich vor Stalingrad gefallen.‹« (84) Auf die Niederlage von Stalingrad kommt S. wiederholt zurück (z. B. 123 ff.). Mehrfach spricht er auch über Eid und Treue, wenn er die Soldaten der deutschen Armee auffordert, Widerstand zu leisten (z. B. 90 ff.113 ff.125 ff.). S. konstatiert die Mitverantwortung aller Deutschen für Hitler und den Nationalsozialismus (226 ff.). Mehrere Ansprachen richten sich an die deutschen Frauen, die auf Feldpost von ihren Partnern warten (148 f.201 f.). Enthalten ist auch eine auf plattdeutsch gehaltene Weihnachtsfeier (244–247). Öfter gab S. in solchen Sendungen auch nur Grüße von Kriegsgefangenen weiter, die die Angehörigen in der Heimat erreichen sollten.

Auf die Predigten folgt ein ausführlicher Aufsatz von Hartmut und Silke Lehmann, der die Rundfunk- und Predigttätigkeit im Nationalkomitee einordnet und bewertet (331–365). Hartmut Lehmann, emeritierter Direktor des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte, konstatiert zunächst die bis heute anhaltende Herabwürdigung von S.s Tätigkeit im Nationalkomitee in der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung. Schon deshalb sorge die Publikation der Predigten dafür, dass sich die Leser ein eigenes Urteil bilden könnten. Beide Autoren arbeiten nun die Geschichte der kirchlichen und nicht-kirchlichen Angriffe auf S. von den fünfziger Jahren bis heute auf und stellen diesen Angriffen die theologischen Verteidigungsreden gegenüber, mit denen sich S. gegen solche Angriffe wehrte (bes. 340 ff.). Zentral ist dabei die Frage, ob die sowjetische Militäradministration auf S.s Predigten Einfluss nahm, sie zensierte oder sonstwelche Vorgaben machte, die er dann gegen seine eigene theologische Überzeugung in seine Predigten integrieren musste (354 ff.). Den vorliegenden Manuskripten jedenfalls sei eine solche Einflussnahme nicht anzusehen. Schriftliche Belege für eine Einflussnahme von außen liegen nicht vor (332), was aber eine mündliche Einflussnahme nicht ausschließe. Die Autoren rechnen dem Verfasser der Predigten auch zu, dass er wegen der seiner Familie in Deutschland drohenden Sippenhaft ein hohes Risiko einging (362). Sie finden in den Predigten eine politische Ethik, die ausdrücklich nicht von Obrigkeitshörigkeit geprägt war (363). Kontur gewinnt die Evaluation auch durch den Vergleich der Predigten mit den Radioansprachen Thomas Manns, die allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen gehalten wurden (360 ff.). Schließlich kommen beide Autoren zu folgendem Fazit: »[Schröders] Predigten und Ansprachen haben jedoch auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nichts von ihrer politisch-analytischen Klarheit, nichts von ihrem theologisch-moralischen Anspruch, ja nichts von ihrer bedrückenden Aktualität verloren.« (365)

Zwei Beiträge schließen den Band ab. Der Beitrag von Jens Holger Schjörring, »Das Vermächtnis der Bekennenden Kirche und die Moskauer Predigten von Johannes Schröder« (367–382) kommt zu dem Ergebnis, dass sich die implizite Theologie der Predigten an der Bekennenden Kirche und der Barmer Theologischen Erklärung orientiere (382). Der letzte Beitrag von Christiane Godt (383–387) beschäftigt sich mit der Bedeutung von Gesangbuch und Chorälen in den Predigten.

Insgesamt kommt diesem Band aus mehreren Gründen ein großes Verdienst zu. Er nimmt eine Kontroverse kirchlicher Zeitgeschichte auf und führt sie durch die Publikation der Quellen selbst auf einen Stand, bei dem sich ab sofort alle Leser an den Texten selbst ihr Urteil bilden und dieses überprüfen können. Zweitens revidiert er bestimmte Vor- und Fehlurteile, die dem Verfasser in seiner theo-logischen Nachkriegslaufbahn bis zu seinem Ruhestand eminent geschadet haben. Im Geleitwort das Nötige gesagt zu haben, ist dem Bischof der Nordkirche hoch anzurechnen, wenn auch vermutlich zu konzedieren ist, dass nicht nur dem nordelbischen Diakoniepfarrer Unrecht durch Fehlurteile klerikaler Verwaltung geschehen ist. Hier besteht noch Forschungsbedarf für die kirchliche Nachkriegsgeschichte. Drittens ist dem Band das Verdienst zuzuschreiben, den schwierigen theologischen und biographischen Kontext aufzuhellen, in dem sich S. seit Beginn der Kriegsgefangenschaft befand. Er wusste um die schwere Situation der Soldaten, er musste auf seine Familie Rücksicht nehmen, er war theologisch in die Bekennende Kirche eingebunden, er war Seelsorger, er war Mitglied des Na-tionalkomitees, er kämpfte gegen den Nationalsozialismus. Diese komplexen Kontexte waren mit Ambivalenzen verbunden, die die Begleitanalysen in sorgfältigen Überlegungen herauspräparieren und aufhellen. Die Bewertung der Kontexte, der Entscheidungen, die S. fällte, und der theologischen Überlegungen, die er publik gemacht hat, mag kontrovers bleiben. Dieser Band hat mit der Publikation der dafür nötigen Quellen die Voraussetzungen für ein abgewogenes Urteil geschaffen.