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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

728-730

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Kiel, Nikolai

Titel/Untertitel:

Das Erbe des Origenes bei Gregor von Nyssa. Protologie und Eschatologie im Kontext des Origenismus.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2022. 653 S. = Adamantiana, 24. Geb. EUR 94,00. ISBN 9783402137604.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Zu den im Rückblick nur schwer verständlichen Entwicklungen der Alten Kirche zählt das Geschick des Origenes von Alexandria. Origenes (c. 185–c. 253) war wahrscheinlich der bedeutendste Theologe der griechischen Kirche; ohne jeden Zweifel war er ihre mächtige Gründergestalt. Seinem überlegenen Intellekt und seiner beinahe unfassbaren Schaffenskraft verdankt die patristische Theologie maßgebliche Impulse in all ihren Themen und Genres. Ganz gleich ob man auf die zentralen dogmatischen Fragen blickt, für die Origenes weitgehend die Begrifflichkeiten und Kategorien bereitgestellt hat; ob man die Bibelexegese bedenkt, die durch ihn sowohl begründet als auch zu einer nur selten wieder erreichten technischen Perfektion und intellektuellen Tiefe geführt wurde; oder ob man an sein tief empfundenes spirituelles Frömmigkeitsideal denkt, ohne das die spätere asketische Tradition undenkbar gewesen wäre: in jeder dieser Richtungen wirft die Arbeit des Origenes einen Schatten voraus, unter dem sich die wichtigsten weiteren theologischen Arbeiten der folgenden Jahrhunderte entfalteten, teils in Weiterführung seiner Ansätze, teils in ihrer produktiven Umbildung. Gleichzeitig jedoch wird Origenes schon zu seinen Lebzeiten und dann periodisch immer wieder angefeindet. Zum Teil sind es einzelne Ideen, die Anstoß erregen, immer stärker jedoch richtet sich die Ablehnung auf sein Werk als Ganzes und auf die hinter ihm stehende Person.

Ein wichtiger Wendepunkt in dieser Geschichte ereignet sich in den letzten Jahrzehnten des 4. Jh.s. In den 370er Jahren veröffentlicht der als Asket verehrte, intellektuell eher minderbemittelte und dabei hochgradig fanatische Bischof Epiphanius von Salamis (310–403) zwei Schriften, die einzig der Bekämpfung von Häresien gewidmet sind. In beiden Schriften wird Origenes zum Thema gemacht: neben Gnostikern, Monarchianern und Arianern findet der bislang hoch Geachtete nun seinen Platz unter den Feinden der Kirche. Die von Epiphanius gesäte Saat geht dann an der Wende zum 5. Jh. im sogenannten ersten origenistischen Streit auf, in dem neben dem nun hoch betagten Epiphanius auch Hieronymus eine unrühmliche Rolle spielt. Von da an wird der Origenismus zur Sache kleiner Gruppen am Rande der Kirche, bis er im 6. Jh. offiziell durch das Fünfte Ökumenische Konzil (553) verurteilt wird.

Eine zentrale, wenn auch im Einzelnen unklare Rolle kommt in dieser Geschichte den sogenannten drei Kappadoziern zu und unter ihnen insbesondere Gregor von Nyssa (c. 335–c. 395). Denn diese Zeitgenossen des Epiphanius sind ganz offensichtlich vom Denken des Origenes tief beeindruckt und in ihrer eigenen Theologie von ihm angeregt. Während aber der Alexandriner und etliche seiner Anhänger zur Zielscheibe der antihäretischen Kritik geraten, werden die Kappadozier zu den Autoritäten schlechthin der östlichen nizänischen Theologie. Wie lässt sich diese widersprüchliche Entwicklung erklären? Eine einflussreiche Forschungstradition deutet diesen Befund damit, dass sich bei den Kappadoziern ein kirchlich gemäßigter Origenismus vorfinde. Nach dieser Theorie hätten diese Kirchenväter die origineischen Ideen in einer modifizierten Weise rezipiert, durch die das Anstößige an ihnen abgeschliffen worden sei.

Hält eine solche Theorie jedoch der Detailuntersuchung anhand der Texte stand? Erstaunlicherweise gibt es zu dieser Frage nicht allzu viele Studien, und so ist die vorliegende Arbeit von Nikolai Kiel, eine Habilitation an der Universität Münster, uneingeschränkt zu begrüßen. K. konzentriert sich ganz auf Gregor von Nyssa, und das aus gutem Grund. Denn Gregor ist sicherlich derjenige, bei dem das Erbe des Origenes am deutlichsten durchscheint. Eine grundlegende Untersuchung von Gregors Verhältnis zu Origenes ist zweifellos ein Desiderat der Forschung, wo sich zwar viele pauschale Thesen zu dieser Frage finden, aber nur selten ein ausführlicher Vergleich durchgeführt worden ist. Freilich ist auch K.s Untersuchung nicht auf das Gesamt des gregorschen Denkens angelegt. Vielmehr beschränkt sich seine Untersuchung ausschließlich auf zwei Bereiche, die Protologie und die Eschatologie. Dafür gibt es sicherlich gute Gründe, da gerade in diesen Lehren der Origenismus des Gregor von Nyssa immer wieder kontrovers diskutiert worden ist. Gleichzeitig standen diese beiden Gebiete auch seit dem 3. Jh. im Zentrum der kritischen Debatte um die Lehre des Origenes. Insofern verspricht ihre Untersuchung so etwas wie ein Lackmustest für Gregors Origenismus zu sein.

Das Ergebnis von K.s breiter, vergleichender Untersuchung dieser Lehren bei den beiden Denkern, die den Großteil des umfangreichen Buches ausmacht, ist eindeutig. Gregor ist dem Origenes in allen wichtigen Punkten zutiefst verpflichtet. Sicherlich gibt es gelegentliche Modifikationen, aber diese betreffen nicht den Kern dessen, worum es Origenes (und Gregor) geht. Gregor erweist sich als treuer Schüler des Origenes, der diesem in allen wesentlichen Punkten folgt. Mit diesem Ergebnis, so fasst K. es selbst zusammen (580), steht die vorliegende Arbeit im starken Kontrast zur bisherigen Forschung, die, wie oben ausgeführt, den kappadozischen Origenismus als kirchlich eingehegt und daher weniger anstößig betrachtet hat. Folgt man K.s Sicht, muss man fragen, warum Gregor in den folgenden Jahrhunderten so ganz anders rezipiert wurde als seine »origenistischen« Zeitgenossen, Didymus der Blinde und Evagrius Ponticus, die 553 zusammen mit Origenes verurteilt wurden.

In diesem Zusammenhang ist auf einen etwas kuriosen Aspekt des Buches zu verweisen. K. fügt nämlich seinen detaillierten Vergleichen der Gedanken des Origenes und Gregors zur Protologie und Eschatologie (Kapitel 1 und 2 bzw. 4 und 5) in jedem Fall ein Kapitel an (Kapitel 3 und 6), das den Kontext der Origenesrezeption im 3. und 4. Jh. nachzeichnet und dabei Autoren wie Dionysius von Alexandria, Eusebius von Cäsarea, aber eben auch Didymus und Evagrius untersucht. Diese Darstellungen gehören zum Besten des Buches. Sie sind materialreich, und die Diskussion der Quellen ist nuanciert. Nur hätten sie doch wohl als Kontext vor die Darstellung der Position Gregors gehört. Dann hätten sie diese nämlich als Teil der Wirkungsgeschichte des Origenes einordnen lassen. Stattdessen müssen Leser und Leserinnen jetzt z. B. von der Darstellung des Evagrius oder des Didymus zurück zur bereits erfolgten Präsentation der Theologie des Nysseners gehen und aus dem Vergleich die eigenen Schlüsse ziehen.

Diese seltsame Nachordnung wichtiger kontextueller Informationen ist nur ein Teil eines größeren Problems, das sich bei der Lektüre des gelehrten Werkes ergibt. Insgesamt scheint dieses über weite Strecken seltsam ahistorisch angelegt. Origenes und Gregor werden wie zwei Systematiker betrachtet, deren Theorien als solche miteinander verglichen werden. Die Fragen und Her-ausforderungen, vor denen Gregor in seiner Zeit stand, spielen demgegenüber kaum eine Rolle. Die Kontroverse über die Trinität beispielsweise, die für Gregors Denken zentral war, findet nur am Rande Erwähnung, obgleich sich aus der kappadozischen Ablehnung der Logoschristologie offensichtliche Schwierigkeiten für die Origenesrezeption ergaben. Beinahe noch unverständlicher ist die Randstellung, die Epiphanius mit seiner Attacke auf Origenes im Buch einnimmt, besonders wenn man bedenkt, dass wesentliche Arbeiten Gregors nur wenige Jahre nach Veröffentlichung der häresiologischen Werke des Bischofs von Salamis verfasst wurden.

Ungeachtet dieser Einschränkungen jedoch zeigt K. eindrücklich das Ausmaß und die Tiefe der Parallelen zwischen dem Denken Gregors und dem des Origenes. Mehr als in früheren Arbeiten zeigt sich hier Seite für Seite, wie stark und durchgängig Gregor von den Ideen seines Vorgängers geprägt ist, wie diese ihm gewissermaßen oft ganz von allein »in die Feder fließen«. Origenes war die überragende geistige Gestalt in der theologischen Welt, in die Gregor hineinwuchs. Es ist K.s großes Verdienst, im Detail zu belegen, wie sehr Gregor von Nyssa sich dieser Tatsache bewusst war und wie sehr er es vermochte, von diesem Vermächtnis zu zehren.