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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

726-728

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Brachtendorf, Johannes u. Volker Henning Drecoll [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Augustinus De Genesi ad litteram. Ein kooperativer Kommentar.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill | Schöningh 2021. VIII, 402 S. m. Abb. = Augustinus – Werk und Wirkung, 13. Kart. EUR 124,00. ISBN 9783506791283.

Rezensent:

Georgiana Huian

Der Band sammelt die Beiträge der internationalen Tagung »Augustins De Genesi ad litteram« (Tübingen, 2017), organisiert durch das Tübinger Augustinus-Zentrum und das »Augustinian Institute« der Villanova University, USA. Die Aufsätze wurden auf Deutsch oder Englisch meistens von Augustinus-Spezialisten verfasst und geben Einblicke in Fragen der Theologie, Philosophie, Kosmologie und der theologischen Anthropologie. Dadurch entsteht ein gemeinsamer Kommentar zu De Genesi ad litteram – oder eine intellektuelle Reise durch die jeweiligen Bücher und die übergreifenden Fragestellungen.

Die Einleitung von Johannes Brachtendorf platziert das Werk im Kontext der spätantiken Kosmologie, die wesentlich von zwei Quellen geprägt wurde: von Platons Timaios und der Schöpfungserzählung der Genesis 1–3. De Genesi ad litteram wird innerhalb des augustinischen Corpus situiert und durch seine Beziehungen zu anderen Genesis-Auslegungen charakterisiert. Die Analyse zeigt, wie Augustinus seine Taxonomie verschiedener Auslegungsweisen des Schöpfungsberichts entwickelt hat.

Michael Cameron schildert die Geschichte der Darlegungen der Schöpfungserzählung durch Augustinus vor De Genesi ad litteram. Er zeigt den Übergang von der spirituell-theologischen und polemischen Lektüre (De Genesi contra Manichaeos, c. 389) über den experimentellen Kommentar der lexikalischen Bedeutung (De Genesi ad litteram imperfectus liber, c. 389) bis hin zum Schwindelgefühl vor dem biblischen Wort (die letzten Bücher der Confessiones, c. 397/404).

Clemens Weidmann behandelt die handschriftliche Überlieferung von De Genesi ad litteram. Mithilfe von Beispielen aus einer Handschrift aus Sankt Gallen argumentiert er für eine gewisse Vorsicht gegenüber dem Stemma von Michael Gorman.

Die folgenden Beiträge sind den einzelnen Büchern von De Genesi ad litteram gewidmet und analog zu deren Abfolge aufgeführt. Johannes Brachtendorf bespricht die Interpretation des ersten Schöpfungstages (Buch 1). Er zählt zwölf inhaltliche Probleme auf, die Augustinus in der Interpretation von Gen 1,1–5 entfaltet. Ein Höhepunkt dieses Beitrags ist die metaphysisch-christologische und die zeitliche Auslegung von in principio (77–78); ein anderer die Lehre der creatura spiritalis, die teils mit den Engeln, teils mit der platonischen Weltseele identifiziert wird (78). Gerald P. Boersma überblickt Augustinus’ Verständnis des zweiten, dritten und vierten Tages der Schöpfung (Gen 1,6–19). Sehr interessant ist hier die Darlegung der Lehre der rationes seminales – »Samen«, die ursprünglich in die Schöpfung hineingesetzt sind, um ihr Wachstumspotential zu garantieren. Dieser Gedanke kann m. E. relevant sein für heutige theologische Kosmologien, die sich auf das Werden zur Fülle des Lebens fokussieren.

Augustinus’ Interpretation des fünften und sechsten Schöpfungstages (Buch 3) wird von Benjamin Gleede analysiert. Ins Zentrum rückt hier das anthropologische Problem mit der Deutung der Schöpfung des Menschen in Gen 1,26–31. Bemerkenswert ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach der doppelten (intelligiblen und materiellen) Schöpfung des Menschen sowie mit den Themen der Gottesebenbildlichkeit und der (Un-)Sterblichkeit des Urmenschen.

Emmanuel Bremon untersucht die Verflechtung von exegetischen und philosophischen Perspektiven in der Auseinandersetzung mit dem Sinn des »Tages« im Buch 4 sowie die Beziehung zwischen Gottes Ruhe am 7. Tag mit der Metaphysik der Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf.

Charlotte Köckert behandelt das 5. Buch, in dem Augustinus Gen 2,4–6 kommentiert: Sie unterstreicht das doppelte Verständnis des Schöpfungshandelns Gottes als »Erschaffung der Welt« einerseits und »andauernde Verwaltung« der Welt andererseits (168). Die Gestaltung des menschlichen Körpers de limo terrae (Gen 2,7), das Verhältnis zwischen Gen 2,7 und Gen 1,26 sowie die rationes causales stehen ausgehend von De Genesi ad litteram 6 im Zentrum der Untersuchung von Allan Fitzgerald.

Volker H. Drecoll erläutert die Thematik der menschlichen Seele im Buch 7: Hier ringt Augustinus nicht nur mit den Bedeutungen von flauit (sufflauit/in-spirauit) aus Gen 2,7, sondern auch mit antiken Theorien zur Entehrung der psyche/anima. Vom »thematischen Potpourri« des 8. Buches wählt Anthony Dupont Themen wie die Darstellung des Paradieses, den Ursprung des Bösen und die göttliche Kommunikation und Providenz zu vertiefen.

Susanna Elm vermittelt die Herausforderungen des Kommentars der Erschaffung Evas (Gen 2,18–24) in Buch 9: den Status der Frau als adiutorium, die Frage der ursprünglichen, paradiesischen Sprache oder die Vorstellung der Formung Evas wie ein Haus (domus).

Xiaogang Yang bespricht den Ursprung der Einzelseelen in De Genesi ad litteram 10 und zeigt, dass das Problem sich »nicht eindeutig lösen« lässt (282).

Jonathan P. Yates öffnet den Zugang zum Buch 11 durch eine Verknüpfung zwischen dem augustinischen und dem paulinischen Denken, z. B. in Bezug auf den Sündenfall.

Im Buch 12 erlaubt sich Augustinus nach Matthew Drever eine »Paulinische Glosse zur Frage des Paradieses« (313) durch die Diskussion der Schau Gottes (cf. 2Kor 12,2–4).

Karla Pollmann legt eine exzellente Synthese der Rezeptionsgeschichte des augustinischen Kommentars vor. Die Parallelen von De Genesi ad litteram zu Rilkes Zweite Duineser Elegie (»Wer seid ihr?«) und die Beispiele aus den bildenden Künsten (darunter auch Michelangelos Die Erschaffung Adams) zeigen weitreichende Echos in der europäischen Kultur. Ein zusammenfassender Ausblick auf Gen 1 und 2 bei Augustinus aus alttestamentlicher Sicht wird abschließend durch Walter Groß gegeben.

Das Buch ist eine bereichernde Lektüre für Augustinus-Forscher, Patrologen, Kirchenhistoriker, systematische Theologen, klassische Philologen sowie für alle an der philosophischen Synthese der Spätantike und am sogenannten »christlichen Platonismus« Interessierten. Auch aktuelle Fragen der Anthropologie und der Kosmologie (die fundamentalen Fragen für die Leserschaft des 21. Jh.s) lassen sich im Spiegel von Augustinus’ Denken mithilfe dieses vielschichtigen und vielstimmigen Kommentars in einem neuen Licht betrachten. Für Interessierte der Angelologie bringt diese Lektüre eine originelle Entdeckung, denn die Engel sind mit einer »Performativität« in der Schöpfung assoziiert (142). Für Philosophen mag es interessant sein, wie eine Prozess-Metaphysik sich mit neuplatonischen Modellen kreuzen kann. Darüber hinaus erscheinen die Fragen zu der Erneuerung der Körperlichkeit in Gen. litt. 6 (203–7) zugleich rätselhaft und erfrischend – besonders im heutigen Kontext eines wachsenden Interesses an »Embodi- ment«-Theologien. Die Idee einer mutabilitas der anima humana (223) könnte sehr gut ins Gespräch kommen mit jüngsten philosophischen und theologischen Überlegungen zur Plastizität, Malleabilität und Vulnerabilität des menschlichen Wesens. In fine, Liebhaber der negativen Theologie finden in den Hinweisen auf die Unsagbarkeit Gottes (330), die apophatische Haltung in Augus-tinus’ Denken (233) oder in seinem exegetischen Kampf mit den Aporien der biblischen Formulierungen eine Quelle fürs Nach-denken.