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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

724-726

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Baratella, Nils, Hueck, Johanna, u. Kirstin Zeyer [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Existenz und Freiheit. Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre Augustins.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2022. 246 S. m. 3 Abb. = Forschungen zu Karl Jaspers und zur Existenzphilosophie, 1. Geb. CHF 52,00. ISBN 9783796545108.

Rezensent:

Walter Dietz

Der 2022 in Basel edierte Band bezieht sich auf eine philosophische Tagung zu Karl Jaspers, die im Herbst 2019 in Oldenburg stattfand. Er behandelt die Bedeutung der Augustin-Studien von Hannah Arendt, Heinrich Barth und Karl Jaspers im Blick auf ihr Verständnis von Subjektivität, Freiheit und Verantwortlichkeit − in einem geistigen Umfeld, das von Neukantianismus (Cohen, Natorp), Phänomenologie (Husserl), Dialogischer Philosophie (Buber u. a.) und Fundamentalontologie (Heidegger) geistig geprägt war.

Harald Schwaetzer (13−35) ordnet die Augustin-Interpretationen in dessen Rezeptionsgeschichte (schon vor dem Gedenkjahr 1930) ein. Zwei Exkurse zum Augustinverständnis von Johannes Hessen (1924) (16−19) und von Günther Anders (sowie dessen Beziehung zu M. Scheler und sein gebrochenes Verhältnis zu M. Heidegger; 19 f.) sind besonders informativ. H. Arendt, H. Barth und K. Jaspers werden verglichen und im Horizont einer Augustin-Renaissance interpretiert, die statt von Neuthomismus von Existenzphilosophie, Phänomenologie und Personalismus (Ich-Du-Philosophie) geprägt war – eine Synthese, die der Autor bei H. Barth am klarsten realisiert sieht. Jaspers’ Augustin-Deutung wird gegenüber der Arendts eher kritisch betrachtet, da er die christologische Interpretation depotenziert. Schwaetzer sieht den Ertrag aller drei Rezeptionen darin, Augustin als »Stammvater der Existenzphilosophie« herauszustellen, der in Abkehr von neuplatonischen Denkmodellen die Geschichtlichkeit des Existierens entdeckt hat.

Im Beitrag von Nils Baratella (37−49) geht es um H. Arendts Freiheitsverständnis und ihr Konzept von Sozialität (der Andere im Kontext der adamitischen Menschheit), wobei das Motiv der Natalität interpretiert und eingeordnet wird (Arendts Konzept der Natalität − ein Gegenentwurf zu Heideggers »Sein zum Tode« − war maßgeblich von Augustin inspiriert; 37−42). Im Unterschied zu Augustin kommt die politische Freiheitsdimension stärker in Betracht (44). Die Menschheit gründe nicht in Gott, sondern in Adam (46). Die Liebe sei mit Arendt auf den konkreten Anderen zu beziehen und nicht auf ein Jenseits (47).

Kirsten Zeyer (51−66) beleuchtet Heinrich Barths Sicht der Philosophiegeschichte3, wobei Plato (habil. 1921), Augustin (1935) und Kant (1927) im Zentrum stehen. Sie vergleicht Jaspers’ Konzept der Großen Philosophen mit dem neukantianisch geprägten Modell einer Philosophie der Geschichte, wie es bei H. Barth vorliegt (59f.). Barth kritisierte an Arendt vor allem, dass in ihrer Augustin-Interpretation der creator (gegenüber der creatura) nicht angemessen berücksichtigt werde (61 f.). H. Barths problemgeschichtliches Konzept wird von der Vfn. auf der Basis des Marburger Neukantianismus historisch eingeordnet.

Susanne Möbuß (69−86) zielt in ihrem Beitrag auf einen Vergleich von Barth und Arendt im Blick auf deren Weltverständnis. H. Barth verstehe Augustin so, dass Gottes Wirken den Menschen aus dem liberum arbitrium zur Freiheit zum Guten befreit (75). Während so der Freiheitsbegriff bei Barth im Zentrum stehe, werde bei Augustin analog der Liebesbegriff fokussiert (77 f.). Das Ziel des göttlichen Gnadenwirkens werde somit unterschiedlich bestimmt; Freiheit bzw. Liebe werde als Medium der Transzendenz zum Göttlichen hin interpretiert.

Anton Hügli (87−105) räsoniert über das Verhältnis von Freiheit und Existenz bzw. Identität. Ausgehend von Kant geht es ihm um die Freiheit rational begründeter Autonomie. Im zweiten Teil behandelt er Jaspers’ Verständnis von Freiheit, Grenzsituation und Selbstseinkönnen (95 ff.). Hügli legt die Spannung zwischen augustinischem und pelagianischem Freiheitsverständnis dar und fragt, ob Augustins Denkmodell rezipierbar sein kann, auch wenn der »Christusglaube erloschen« ist (101). Transzendenz – als »Chiffre« – dürfe nicht so wirkmächtig gedacht werden, dass dadurch die Autonomie der Freiheit beeinträchtigt würde (102).

Frauke A. Kurbacher (107−131) thematisiert das Verhältnis von Freiheit, Wille und Verantwortung bei H. Arendt (1929) und H. Jonas (1930). Im Hintergrund steht das Problem von Freiheit und Gnade. Dem augustinischen Modell entgegen lehre Kant eine Freiheit durch das Gesetz (112). Nach Augustin überwinde die Liebe die innere Zwiespältigkeit des Wollens (121), nach Kant ist es hingegen die Urteilskraft (122). Jonas wird als eher religiöser Versuch der Auseinandersetzung mit Augustin gesehen, Arendt als stärker säkularer. Beide treffen sich darin, dass sie von Augustin her die rein individuelle Verantwortungsstruktur überwinden. Die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit wird ihnen am Willensproblem evident, wobei allerdings Arendt dem paulinischen Modell von Röm 7 kritischer gegenüberstehe als Jonas (126).

Armin Wildermuth rekurriert in seinem Beitrag (133−154) auf das Verhältnis von Freiheit und Welt bei H. Arendt, A. Portmann und H. Barth. Er konstatiert radikale Differenzen im Freiheitsverständnis, aber bei allen dreien eine metaphysikkritische Hervorhebung des Primats der Erscheinung bzw. des Erscheinens. A. Portmann, Basler Lehrkollege von Jaspers und H. Barth, wird als Inspirator Arendts herausgearbeitet (136−140). H. Barth sieht er als Repräsentanten einer »existentiellen Freiheit« (147−152) mit offenem Transzendenzbezug (anders als Arendt; 153).

Malte M. Unverzagt behandelt den Begriff des »Umgreifenden« bei K. Jaspers (157−177), wobei auch sein Glaubensbegriff analysiert wird (171 ff.; im Gespräch mit H. Barth 174 ff.).

Bernd Weidmann (179−212) analysiert Jaspers’ Augustin-Rezeption in seiner Verhältnisbestimmung von Freiheit, Autonomie und Selbstverwirklichung zum menschlichen Willen (von Röm 7 her) und zur Gnade, verbunden mit dem Wissen um das Verdanktsein der eigenen Existenz. Der u. a. biographisch aufschluss- reiche Beitrag behandelt auch Jaspers’ Abgrenzungsbemühungen zur Theologie Bultmanns sowie seine Affinität zur pelagianischen These einer nobilitas ingenita. Letztlich bleibe bei Jaspers die Transzendenz unpersönlich und die Gnade »dunkel im Hintergrund« (209). Zwischenzeitlich (ca. 1936−1949) gewinne Augustin für Jaspers jedoch eine eminente Bedeutung, auch wenn er meist nicht explizit genannt werde. Nicht nachvollziehbar ist und bleibt für Jaspers Augustins These einer autoritätsbegründeten Geltung der Wahrheit des Evangeliums.

Christian Graf (215−224) stellt in seinem originellen Beitrag die brisante Frage, ob der nachmetaphysische Transzendenzverzicht einer ›Oben-ohne-Philosophie‹ wirklich einen weiteren und offeneren Horizont mit sich bringt − oder nicht eher einen Verlust an Deutungskraft (216). Im Vordergrund steht die vorwurfsgetränkte Frage, ob Heinrich Barth nicht ein halber Theologe − und somit kein vollwertiger Philosoph − gewesen sei, was Graf bestreitet (215−217). Barth sei nicht befangen im christlichen Glauben (oder noch schlimmer: Glaubensgehorsam), sondern aufgeschlossen, was allerdings die Offenheit für Offenbarung ein- und nicht ausschließe (217). Graf macht deutlich, wie H. Barth das Gegensatz-Schema von Freiheit und Gnade in seiner Augustin-Interpretation überwindet – und damit auch Jonas’ These, der späte Augustin tendiere dazu, den Wirkbereich der Gnade auf Kosten des beschränkten liberum arbitrium »immer mehr auszudehnen« (220). Graf kritisiert den Ausschluss der Gnade (die, so Barth, gewaltsam »ausgeschaltet« werde, 222) um der Reinheit der Philosophie willen (die es im augustinischen Sinn nicht geben könne).

H. Barth wird zuletzt auch von Johanna Hueck behandelt (225−241), die sein Augustin-Buch als Antwort auf die geistige Situation der Zeit interpretiert, allerdings nicht als inhaltliche Auseinandersetzung, sondern als Zeichensetzung, als »geistige Mahnwache« (240) gegen die NS-Barbarei und ihre Apologeten (A. Rosenberg). Im Kontext seiner Existenzphilosophie betone H. Barth die Verantwortlichkeit des Einzelnen im Gegensatz zur Einbindung in ein ideologisches Wertekorsett.

Fazit: Der sehr ansprechend und solide aufgemachte Band ist sein Geld wert, allein schon wegen des exzellenten Beitrags von Bernd Weidmann. Leider fehlt − wie oft bei Tagungsbänden − ein Register. Hans Jonas’ Augustinrezeption ist nur am Rande berücksichtigt. Dennoch ist ein sehr interessanter Sammelband herausgekommen, der vor Augen führt, wie virulent und kreativ die außertheologische Augustinrezeption (auf Anregung M. Heideggers 1925 ff.) in den Zwanziger- und Dreißigerjahren (20. Jh.) gewesen ist. Auch für alle, die nur den vier Jahre älteren Bruder Karl vor Augen haben, kann die Befassung mit Heinrich Barths existenzphilosophischem Freiheitsbegriff von Interesse sein.