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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

721-723

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Abramowski, Luise

Titel/Untertitel:

Neue Christologische Untersuchungen. Bearb. v. A. M. Schilling. Hgg. v. H. Ch. Brennecke, V. H. Drecoll u. Ch. Markschies.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XVIII, 534 S. = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 187. Geb. EUR 129,95. ISBN 9783110644920.

Rezensent:

Theresia Hainthaler

Von der am 3. November 2014 verstorbenen Tübinger Kirchenhistorikerin Luise Abramowski (Lehrstuhlinhaberin 1974–1995) liegt bereits ein Sammelband mit 16 Aufsätzen (zum Teil in englischer Übersetzung) vor, der Variorum Band »Formula and Context. Studies in Early Christian Thought« von 1992; dazu ist auch der schmale Band »Drei christologische Untersuchungen« (BZNW 45) von 1981 zu verzeichnen.

Der hier anzuzeigende, 2021 erschienene umfangreiche Sammelband enthält insgesamt 26 Aufsätze von knapp 500 Seiten Text. Das Projekt wurde noch mit der Autorin in den letzten Tagen ihres Lebens besprochen und hat somit ihre Zustimmung. Der zeitliche Rahmen der Aufsätze umfasst mehr als 50 Jahre, von 1958 bis 2011, und deutet auf die lange Schaffenskraft von A. hin. Tatsächlich beginnt ihre Publikationsliste bereits 1952 und die Untersuchungen zur Christologie der persischen Kirche, an denen sie bis 2014 arbeitete, ist nun 2022 erschienen (Die Kirche in Persien = Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Band 2/5, herausgegeben, bearbeitet und mit weiteren Kapiteln ergänzt von mir, Freiburg i. Br. 2022, 839 + xxiii pp.). Einige Aufsätze des Sammelbandes entstanden als Vorarbeiten für dieses Werk.

Außer dem Vorwort der Herausgeber (V–VII) ist die Gedenkrede von Christoph Markschies für Luise Abramowski im Akademischen Festakt an der Universität Tübingen am 23.1.2019 abgedruckt (VIII–XIV), die die Persönlichkeit A.s lebendig werden lässt.

Die Herausgeber gruppierten die Beiträge in fünf Teile. Den Anfang bilden die Studien zum Manuskript BL add. 12156, einer Handschrift bestehend aus 132 fols., die A. ursprünglich für CSCO edieren wollte. Die Fragmente der wichtigen Schrift Theodors von Mopsuestia, De incarnatione, spielen dabei eine große Rolle.

Die Handschrift enthält fünf Schriften des antichalcedonischen Erzbischofs von Alexandrien Timotheus Aelurus (14.3.457–Jan. 460 und 475–31.7.477), dazu weitere vier Schriften, die ebenfalls Timotheus zugeschrieben werden. Dabei ist nr. VIII, eine Schrift gegen »Blasphemiae« von Diodor, Theodor und Nestorius, von besonderem Interesse, da sie Fragmente aus De incarnatione des Theodor von Mopsuestia enthält. Diese nun verschollene Schrift hatte Erzbischof Addai Scher noch in Händen (er wurde 1915 ermordet und seine Bibliothek zerstört). Über eine Stelle darin ist viel gerätselt worden, ob nämlich Theodor von der einen Hypostase Christi spricht oder nicht. Hier gibt es eine zweite syrische Überlieferung, die eine andere Version hat. Die Frage, welche Version authentisch ist, bewegte die Forschung; A. wies 1996 nach, dass Theodor nicht von der Hypostase Christi spricht. Eine Synopse gerade dieser Fragmente wird hier neu aus dem Nachlass erstmals in der Bearbeitung von A. Schilling publiziert.

In Teil 1 werden auch die sonstigen zu dieser Frage einschlägigen Artikel A.s (1983–1993) erneut abgedruckt. Teil 2 ist Babai dem Großen, dem maßgebenden Theologen der Kirche des Ostens gewidmet und bietet die beiden nach wie vor grundlegenden Aufsätze von A. von 1974 und 1976 zur Christologie Babais – im Unterschied zur Originalpublikation nun mit durchlaufender Nummerierung der Fußnoten, was deren klare Zuordnung ermöglicht. In Teil 3 und 4 schließen sich zehn Aufsätze zur syrischen Kirchengeschichte an, unterteilt in Beiträge, die vor bzw. nach 1992 entstanden sind. Die Begründung für diese Einteilung liegt vermutlich darin, dass in der FS Abramowski »Logos« von 1993 die Beiträge bis 1992 einschließlich gedruckt vorlagen. Man kann sich vorstellen, dass eine chronologische Anordnung, Teil 4 (Beiträge vor 1992, und zwar aus den Jahren 1958–1991) vor Teil 3 (Beiträge nach 1992, nämlich 1996–2011) auch inhaltlich sinnvoll wäre, denn von den drei Studien in Teil 4 haben zwei mit Theodor von Mopsuestia zu tun und schließen gut an Teil 1 und 2 an. Nach dem dankenswert beigefügten Register ist Theodor von Mopsuestia der am meisten behandelte oder erwähnte Autor.

Die nach dem Publikationsdatum chronologisch angeordneten Einzelstudien in Teil 3, über eine Ps.-Narsai Homilie mit einem interessanten Theodor-Zitat (3.1), über die Schriften des Michael Malpana (incl. Korrektur der früheren Edition A.s) (3.2), die Kontroverse über Martyrios/Sahdona im 7. Jh. (3.5), die Christologie der edessenischen Theodorianer (3.6) und vor allem die grundlegende Studie über den Katholikos- und Patriarchentitel des Oberhaupts der Kirche des Ostens (3.7) betreffen die ostsyrische Kirchengeschichte. Das trifft auch zu für die Analyse der Position des Kyrill von Alexandrien über den Verlassenheitsruf Jesu (3.3), denn sie bildet das Gegenüber zur Auslegung der gleichen Stelle Mt 27,46 bei Narsai und Ephräm. Teil 4 bringt frühe Miszellen über ein sonst unbekanntes Theodor-Zitat mit der theodorianischen Definition von Prosopon (4.1) und über das Verhältnis des Ps.-Nesto-rius zu Philoxenus (4.2), sowie den Aufsatz über Dadisho Qatraya’s Kommentar zu Abba Isaiah (4.3), in dem A. zeigt, wie Dadisho die Wüstenväter mit Theodor von Mopsuestia harmonisiert.

Teil 5 bietet neun einzelne Beiträge zur Dogmengeschichte des 4. bis 6. Jh. (aus den Jahren 1991–2006) über die 3. Arianerrede des Athanasius zu Beginn (5.1), darunter hervorragende neue Studien zu Marius Victorinus (5.7 und 5.9) und eine Forschungsgeschichte zu Nestorius (5.3), zu der A. Maßgebliches beigetragen hat. Zur Konzilienforschung findet sich der Artikel über die Herkunft des Nicaeno-Constantinopolitanum mit der These A.s, dass es auf einen Text zurückgeht, der in Rom entstanden ist (377). Das Konzil von Ephesus von 431 wird in zwei Beiträgen behandelt (5.6 und 5.8). Über den Christusglauben der ersten vier Konzilien (5.4) bietet A. einen klaren und lehrreichen Überblick, den man mit seinem Durchblick durch die theologischen Fragen nur empfehlen kann. Hinter dem allgemeinen Titel verbirgt sich eine Darstellung, in der A. die Details der Konzilsakten auf ihre theologische Bedeutung hin durchsichtig machen kann. Ein Genuss zu lesen.

Zu Marius Victorinus, dem berühmten Rhetor und neuplatonischen Philosophen, von dessen Konversion Augustinus in seinen Confessiones (VIII 2) berichtet, postuliert sie (459), »daß die entschiedenen Nicäner, mit denen es der christlich werdende Rhetor zu tun hatte, nach Ausweis seiner Schriften kirchlich im höchsten Grade assimilierte Gnostiker waren. Das Exposé in der Form, in der es dem Marius Victorinus vorlag, erlaubt eine genauere Bestimmung: »Es handelte sich um Barbelognostiker, erstens wegen der Querbeziehung zum barbelognostischen ›Zostrianus‹, zweitens wegen des Leitfossils tripotens, in dessen Bewertung als barbelognostisch ich mit Tommasi übereinstimme.« Sie findet, dass die »römischen Barbelognostiker eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht haben. [...] Zur Zeit des Marius Victorinus waren sie in der Kirche aufgegangen.« Ihre Existenz lasse sich nur aus den Schriften des Marius Victorinus erschließen; und sie seien es wahrscheinlich, »die den Rhetor zu einem nicänischen Christen gemacht haben« (460 f.). Umso größer sei die Ironie, dass »Victorinus einerseits Valentinus verurteilt, andererseits Topoi der Schüler Valentins ahnungslos übernimmt« (464). Ihre Ergebnisse fanden noch die Zustimmung von Pierre Hadot (1922–2010), als er 2002 das Manuskript von A. erhielt.

Der Band wird ergänzt um das Verzeichnis der Ersterscheinungsorte (497–498), eine Bibliographie (499–508), Quellenverzeichnis (509–519), Bibelstellen (520–521) und Verzeichnis der Namen (Personen, Orte) (522–530), Sachregister (531–533). Man kann nur dankbar sein, dass diese Arbeiten handlich in dieser Weise aufgeschlüsselt zur Verfügung stehen. Die redaktionelle Arbeit an diesem Sammelband stand vor besonderen Herausforderungen bei der Aufbereitung der Synopse der Fragmente ausDe incarnatione Theodors von Mopsuestia, die bisher nicht publiziert war. Dankenswerterweise ist die fehlerhafte Drucklegung von 5.3 (History of research on Nestorius) aus den Anmerkungen von A. hier stillschweigend korrigiert worden. Allerdings ist der Rückverweis p. 365 noch anzupassen: es muss heißen »hier in diesem Band S. 364« (statt: 363) – [da Verweis im Original auf p. 55].

Man bekommt einen Einblick in die Arbeit von A. in den verschiedenen Bereichen, immer originell, selbständig, mit scharfer Beobachtung. Wer die Geduld und Ausdauer aufbringt, diese Aufsätze durchzuarbeiten (und sich anzueignen), wird einen großen Schatz erwerben. Es sind oft meisterhafte Analysen, welche eine souveräne Beherrschung der Dogmengeschichte bis in die Details voraussetzen. Aufsätze, außerordentlich präzise und pointiert formuliert, anspruchsvoll, immer anregend und herausfordernd.