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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

716-718

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda

Titel/Untertitel:

Paulus: Beiträge zu einer intellektuellen Biographie. Gesammelte Aufsätze. Band II. Hgg. v. Eve-Marie Becker u. Siegurvin Lárus Jónsson.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. VIII, 595 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 491. Lw. EUR 189,00. ISBN 9783161617393.

Rezensent:

Udo Schnelle

In der Paulusforschung nimmt Oda Wischmeyer schon seit Jahrzehnten einen prominenten Platz ein. Es ist deshalb zu begrüßen, dass ihre neueren Aufsätze zu Paulus nun von E.-M. Becker und S. L. Jónsson herausgegeben wurden. Der Band ist in vier thematische Gruppen gegliedert: 1: Forschungsstand; 2: Themen; 3: Texte und 4: Rezeption. Zu den insgesamt vier bisher unveröffentlichten Aufsätzen zählt auch die Einleitung »A Plea for an Intellectual Biography of Paul: Paul after the New Perspective and the Radical New Perspective«; ein Aufsatz mit programmatischem Charakter. Die Vfn. skizziert hier ihre Vorstellungen einer theologisch wie historisch anspruchsvollen Paulusinterpretation, die multikausal angelegt sein müsse. Zunächst referiert sie die berechtigte Kritik der »New Perspective« und der »Paul within Judaism Perspective« an der (überwiegend deutschen) lutherisch geprägten Paulusinterpretation, weist aber gleichzeitig überzeugend deren Ansprüche auf monokausale Erklärungen im Kontext des Judentums zurück. Sie sieht den Apostel als Theologen, der die religiösen Traditionen Israels von seiner Christuserfahrung her neu interpretierte und als Autor intellektuell anspruchsvoller Brieftexte eine wirkmächtige Gestalt der Denk- und Ideengeschichte wurde. »An intellectual biography of Paul can be based on five components: (1) the autobiographical details of the undisputed Pauline letters, (2) the post-pauline sources Acts and the post-Pauline letters, (3) the parameters of present-day critical historical biography writing, (4) above all the lines of argumentation and themes of the Pauline letters, and (5) the specific intellectual discourses in which Paul participates and which he leads or initiates himself.« (30) Zu allen fünf Bereichen formuliert die Vfn. wichtige Forschungsimpulse: Das paulinische Selbstverständnis »in Christus« und in Gott; die sehr frühe und umfangreiche Rezeptionsgeschichte, die natürlich auch über Paulus etwas aussagt; die Ergebnisse der neueren Biographie-Forschung, die den konstruktiven Charakter dieser Art von Literatur aufzeigt; die argumentativen und metakommunikativen Ebenen der Paulusbriefe, insbesondere der Dialog mit Israel im Horizont der neuen Geschichte Gottes in Jesus Christus; schließlich die philosophischen und ideengeschichtlichen Diskurse im paulinischen Werk. Dieser bewusst weite Ansatz unterscheidet sich wohltuend von neueren Entwicklungen, die das Verhältnis zum Judentum zum alleinigen Maßstab sachgemäßer Interpretation erklären und gewissermaßen wieder einmal in die Auslegungsgeschichte ein dogmatisches Modell einführen wollen. Weitere forschungsgeschichtlich orientierte Aufsätze befassen sich mit der Paulusinterpretation in den verschiedenen Auflagen der RGG und den Werken Adolf Deissmanns.

Weit gestreut sind die thematisch orientierten Beiträge. Den biographischen Dimensionen paulinischer Theologie widmet sich der Aufsatz »Paulus als Ich-Erzähler«. Wenn Paulus von sich erzählt, steht immer die gegenwärtige Situation im Mittelpunkt: »Sein Interesse gilt stets der Gegenwart und seinen Gemeinden, nicht der Vergangenheit und seiner eigenen Person. Seine erzählenden Texte müssen daher im Rahmen rhetorischer Analyse interpretiert werden.« (143) Die kosmologischen Dimensionen der Christologie werden in »Kosmos und Kosmologie bei Paulus« anhand eines Vergleiches von Platon, Philo und Paulus erörtert und mit einer hermeneutischen These verbunden: »Bei Paulus wird die Kosmologie zur christologischen Anthropologie.« (150) Die Vfn. begründet dies mit dem Verweis auf die Eschatologie; danach entwirft Paulus »eine neue Anthropologie, die nicht mehr an der Kosmologie und dem Urmenschen orientiert ist, sondern auf eine neue Schöpfung wartet« (161). Ob die Kosmologie damit für Paulus nur noch »Vorstellungsinstrumente« (ebd.) bereitstellt, muss allerdings bezweifelt werden, denn das zukünftige Endgeschehen ist auch bei ihm mit massiven kosmologischen Prozessen verbunden (vgl. 1Kor 15,20–28; Röm 8,18 ff.), die als reales zukünftiges Geschehen gedacht werden. Ein weiteres, am Beispiel des Römerbriefes entfaltetes Thema lautet »Gerechtigkeit und Liebe«. Paulus bestimme dort das Verhältnis beider neu: »An die Stelle des Gesetzes als eines ethischen Steuerungsinstruments, das in der Form des Gebots normativ auf das Leben des Menschen einwirkt, tritt in Röm 12 das offene Prinzip des Guten, das den Menschen in Form werbender Verhaltensformen, d. h. als ἀγάπη, begegnet.« (178) Zwei Beiträge widmen sich Paulus als Hermeneut; es schließt sich an: »Warum bleiben die Gegenspieler in den Schriften des Neuen Testaments namenlos? Beobachtungen zur anonymen Polemik«.

Bei Paulus findet sich namentliche Kritik (z. B. an Petrus), aber auch namenlose Polemik im Kontext der Bestreitung seiner Apostelwürde, wo bewusst die Namen der Gegner unterdrückt werden. Dabei zeige sich, »dass der eindeutige Schwerpunkt weniger auf der Unterdrückung anderer Meinungen als vielmehr auf der Unterdrückung der Namen und damit der Bedeutung der Gegenspieler der neutestamentlichen Schriftsteller liegt« (233). Ein zu Unrecht selten behandeltes Thema ist »Emotionen als formative Elemente neutestamentlicher Ethik am Beispiel des Paulus«. Die Vfn. legt dar, wie Paulus seine ethischen Argumentationen emotional vertieft und auf ein gemeinschaftliches Verhalten abzielt, »das Ethos, Emotion und Sozialverhalten zu einer neuen Kultur im Horizont des Eschaton verbindet (1Kor 13,12)« (256).

Im 3. Hauptteil finden sich exegetische Studien zu zahlreichen neutestamentlichen Texten, wobei der Römerbrief und die Korintherbriefe im Mittelpunkt stehen. Bisher unveröffentlicht war: »The Era of the Good: Paul and Politics in Romans 13«. Zunächst wird die Forschungsgeschichte zu Röm 13 dargestellt, wobei zu Recht eine unmittelbare politische Interpretation des Textes abgelehnt wird. Wohl aber verfüge der Text dennoch über eine politische Dimension: »Paul’s primary idea of government as promoter of τὸ ἀγαθόν in the public sphere opens up a fearless understand-ing of political negotiations. […] For Paul τὸ ἀγαθόν works as a political key term. This thought is far away from what we moderns call ›political theology‹.« (341 f.) Weitere Titel lauten: »Das Ereignis als Grundlage der lukanischen Geschichtsschreibung von Paulus«; »Wie kommt Abraham in den Galaterbrief? Überlegungen zu Gal 3,6–29«. Den abschließenden 4. Teil »Rezeption« bilden zwei bisher unveröffentlichte Aufsätze. »Paulus über die Liebe. Das dreizehnte Kapitel des 1. Korintherbriefes und sein Platz im europäischen Liebesdiskurs«. Die Vfn. geht zunächst der Wirkungsgeschichte dieses zentralen Textes nach, um dann nach seiner bleibenden Aktualität zu fragen: »das Liebeskonzept des Paulus ist nicht selbstverständlich und voraussetzungslos, sondern an die christologische Überschreibung des Bundeskonzeptes Israels geknüpft und bleibt damit Teil der christlichen Botschaft. Es ist nicht einfach in eine nach- oder nichtchristliche Humanität oder soziale Solidarität zu überführen.« (521) Ein zentrales, aber oft vernachlässigtes Element paulinischer Theologie ist die Hoffnung: »Paulus als frühchristlicher Hoffnungstheologe«. Die Vfn. arbeitet heraus, welche Vorstellungen und Formen von Hoffnung Paulus kannte und wie er ein eigenes Hoffnungs-Konzept entwarf, das Eingang in die europäische Kulturgeschichte fand. Dabei nahm er eine entscheidende Weichenstellung vor: »Dem theologischen Vordenker der frühesten Christen, Paulus, gelingt zugleich das Neue: die Vision einer Verschränkung von Hoffnungsexistenz im gegenwärtigen Leben mit dem auferstandenen himmlischen Christus.« (558)

Das Paulus-Programm der Vfn. überzeugt: Der Apostel muss aus verschiedenen Blickrichtungen mit einer Vielzahl methodischer Fragestellungen erschlossen werden und lässt sich mit einlinigen Globalthesen nicht angemessen verstehen. Er wirkte erfolgreich als eigenverantwortlicher historischer Akteur in zentralen Städten des römischen Kaiserreiches und schuf durch seine Missionstätigkeit in kurzer Zeit eine neue religiöse Bewegung. Er trat als Theologe und Denker hervor, der die religiösen Traditionen Israels und ihre Weltdeutung von seiner Christuserfahrung her neu interpretierte und dabei kulturelle Grenzen überschritt. Er ist der Autor intellektuell anspruchsvoller Brieftexte, die das Denken in weiten Teilen der Welt bis heute beeinflussen. Dabei war er mit Vielem verbunden, zugleich aber in jeder Hinsicht eigenständig!