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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

709-712

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Steetskamp, Jisk

Titel/Untertitel:

Autorschaft und Sklavenperspektive im Ersten Petrusbrief.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XVIII, 331 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 524. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161569548.

Rezensent:

Eckart David Schmidt

Bei der anzuzeigenden Arbeit von Jisk Steetskamp handelt es sich um die für den Druck überarbeitete und leicht erweiterte Promotionsschrift des Autors, die von Stefan Alkier betreut war und 2018 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. S. war Pfarrer der EKHN, ist seit 2014 im Ruhestand und hat seine ersten Ruhestandsjahre genutzt, um die nun vorliegende, hochrespektable Doktorarbeit zu verfassen. Dafür allein schon einmal: Hut ab! Hut ab aber auch für das thematische Projekt! S.s Arbeit trägt zwar einen etwas sperrigen Titel ohne erläuternden Untertitel, erarbeitet wird darin aber keineswegs nur eine »These« zur Autorenschaft von 1Petr, sondern entwickelt im Grunde eine grundständige Hermeneutik zur Lektüre des gesamten Briefes.

Das Buch ist formal in fünf Kapitel gegliedert zuzüglich eines kurzen, summarischen Resümees und den reihentypischen Registern. Kapitel 1 mit der bescheidenen Überschrift »Welche Perspektive? Auf dem Weg zu einer These« stellt die Weichen für S.s Lektüre des 1Petr. Mit einem originellen Aufhänger ermittelt er anhand von 1Petr 1,1–2 und 3–12 die Begriffe διάνοια (Klugheit, Erkenntnisvermögen) und ἔννοια (Erkenntnis, Einsicht, Gesinnung) als biblische Herleitung nicht nur für seine eigene gewählte Analysemethode, das Close-Reading-Verfahren, sondern auch als konkrete Anweisung für eine Hermeneutik des 1Petr: Der Brief selbst gebe den Lesern »schon methodisch vor, wie sein Text angemessen erfasst werden soll« (9). Dieses Verfahren wendet S. sodann auf sein Anliegen an, die Strategie der Positionierung des Briefautors »aus dem Text« des 1Petr zu erheben (9). Sein Ergebnis nimmt er in diesen kurzen Einleitungsgedanken eigentlich schon vorweg: 1Petr bedient sich intensiv der Konventionen hellenistisch-imperialer Sprache, bürstet diese aber auf eine solche Weise gegen den Strich, dass er sie – eigentlich paradox – in den Dienst von Sklaven und anderen Randsiedlern der Gesellschaft stellt und die Welt der Thora und das Leben aus ihr als Alternative zum hellenistischen Imperium entwickelt. Aus dieser Perspektive erhofft sich S. letztlich auch Einsichten auf die in der Forschung immer noch unklare Identität des realen Briefautors von 1Petr.

Von dieser Ausgangslage aus analysiert S. die Struktur des Briefes. Das Motiv des παρακαλεῖν (ermahnen, ermutigen) ermittelt er als dessen Grundgedanke. In detaillierten Exegesen und belegt durch zahlreiche Einzeltextbeobachtungen weist er allerdings nach, dass der Brief dennoch nicht – wie häufig postuliert – sklavischer Unterwürfigkeit das Wort redet (immerhin kommt in keiner neutestamentlichen Schrift das Wort ὑποτάσσω so häufig vor wie in 1Petr, 35), sondern zu einer »solidarische[n] Positionierung unterhalb der Herrschaftsstrukturen des Imperiums [ermutigen will], an der die Arroganz der Macht zerschellen soll und von der aus die Schwestern- und Bruderschaft Sicht auf ihr eschatologisches Erbe bekommt« (32). Unterordnung soll daher auch nur »unter dem Vorzeichen ihrer – wohlverstandenen und verantwortungsbewussten – Freiheit angenommen werden« (41), das wahre Sklavesein aller Gemeindeglieder ist das unter Gott (1Petr 2,16), das gleichzeitig ein Geliebtsein von ihm ist (2,11). Die berüchtigten Verse 2,13–15 (»Ordnet euch aller menschlichen Einrichtung unter …«) bis hin zu V. 17d (»Ehrt den König!«) ordnet S. den egalitären bzw. theozentrischen Anordnungen unter: »Erweist allen Ehre; liebt die Bruderschaft; fürchtet Gott« (V. 17a.b.c; 44). Diese Strategie verfolge 1Petr auch in der Sklavenparänese 2,18–25, die S. als »das klopfende Herz« (64) des Briefes bestimmt. Denn die Schablone für den hier gezeichneten Sklaventypus sei Christus selbst und gelte allen Adressaten – nicht nur den Sklaven –, um zu verdeutlichen, dass die Situation, als ἀγαθοποιοῦντες (Gutes Tuende) und διὰ συνείδησιν θεοῦ (wegen des Gewissens vor Gott) leiden zu müssen, die Situation aller Adressaten ist (59, mit Zitat aus M. Gielen, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen, BBB 75, Frankfurt a. M. 1990, 354). Aus dieser und zahlreichen weiteren Textexegesen entwickelt S. eine Lektürestrategie des gesamten Briefes aus der Sklavenperspektive. Sie solle und müsse eingenommen werden, um 1Petr angemessen zu verstehen.

Nach diesem furiosen ersten Kapitel lässt S. in Kapitel 2 (67–110) erste Überlegungen zur Verfasserfrage von 1Petr folgen. Dieses ist ein Kapitel, das als Ergänzung zu analogen Abschnitten in den herkömmlichen Einleitungen zum Neuen Testament mit Gewinn zu rezipieren ist, gleichzeitig aber deutlich darüber hinausgeht. Für den Argumentationsgang des vorliegenden Buches findet S. wiederum zahlreiche Beobachtungen, die seine These, 1Petr sei aus Sklavenperspektive verfasst, unterstützen: u. a. dass 1Petr die geläufige Bezeichnung ἐκκλησία, aber auch σῶμα für die Christengemeinschaft vermeidet, weil beide diese Begriffe im politischen Sinne Sklaven ausschließen, und stattdessen von der ἀδελφότης spricht; ebenso dass er ἐπίσκοπος als ekklesiale Funktionsbezeichnung vermeidet (trotz 2,25 und 5,2), weil dieser in der politischen ἐκκλησία anderen Bürgern gegenüber weisungsberechtigt war; schließlich auch die Fiktion von Petrus als vorangegangenem »Zeugen der Leiden Christi« als Modell für das Dulden gegenwärtiger Nöte und Hoffen auf künftige Herrlichkeit (5,1).

Diesen Gedanken baut S. in Kapitel 3 (111–172) weiter aus. Auch hier beobachtet und analysiert er scharfsinnig, detailliert, immer einfallsreich, arbeitet sozialgeschichtliche Hintergründe einzelner Begriffe, Querverweise und Allusionen heraus und festigt so seine These, der gesamte Brief sei aus Sklavenperspektive verfasst.

Dazu gehören z. B. Exegesen zum ungewöhnlichen, aber im Kreise von 1Petr offensichtlich bekannten Wort ἀλλοτριεπίσκοπος (einer, der sich in fremde Sachen mischt, 4,15), zur Schlussdoxologie (5,10 f.) oder zum Vergleich zwischen 1Petr 5,5b–11 und Jak 4,6–10, wo beide Male Prov 3,34 zitiert wird mit dem Unterschied allerdings, dass in 1Petr die ὑπερήφανοι (die Hochmütigen) außerhalb der Gemeinschaft verortet werden, in Jak hingegen innerhalb dieser. Das Zitat habe in 1Petr daher ermutigende Funktion, nicht disziplinierende wie in Jak. Das Bild vom brüllenden Löwen (1Petr 5,8) ist für S. nicht nur ein Bild für Satan (so üblicherweise in der 1Petr-Auslegung), sondern evoziert bereits diedamnatio ad bestias, eine Hatz, von der besonders Sklaven und »praktisch vogelfreie Menschen wie die Christianer« (137 f.) bedroht waren (133–138). Auch die Zentraltugend der ταπεινοφροσύνη (Demut, 5,5b–6a) sei nicht nur allgemein die Demut als Ausdruck der Selbstbeschränkung zugunsten der Liebe zu Gott und zum Nächsten, sondern gelte dem konkreten sozialen Stand, der in der Oppositionsformulierung Prov 3,34 angesprochen werde: den sozial Niedrigen, die ihre Demut »als Haltung der Solidarität auf repressive Machtverhältnisse« (144) verstehen sollen, deren Grenzen aber in 2,13–17 klar aufgezeigt werde. Die Aufforderung zum Gutes-Tun (2,20), die einzig an die Sklaven ergeht, greife das hellenistisch-elitäre Wohltätigkeitsgebaren auf (vgl. auch 2,14) und konterkariere es durch seine Übertragung gerade auf die Unfreien – sowie durch seine inhaltliche Herleitung aus Ps 34 (vgl. 3,10–12.160–172). Die Deutung von μὴ ἀναγκαστῶς (nicht erzwungen, 5,2) mit Blick auf Sklaven, die »nicht nur zur [ekklesialen] Ältestenverantwortung gedrängt, sondern tatsächlich unausweichlich genötigt werden konnte[n]« (149), scheint dem Rezensenten allerdings etwas überspitzt, wohl auch hypothetisch, in jedem Fall recht idiosynkratisch, auch wenn S. auch hier mit Vergleich auf Phlm 14 technisch nachvollziehbar argumentiert.

In Kapitel 4 (173–226) analysiert S. die Kommunikationsstrukturen im Brief. Die drei auffälligen Verwendungen der 1. Person Plural (1,3; 2,24; 4,17) gegenüber der ansonsten verwendeten 1. Person Singular bestimmt er als besonders aussagekräftig für die Intention des Briefes. Immer in detaillierten Analysen begründet S., dass die Chris- tologie 2,21–25 gerade diejenigen Strafen hervorhebt, mit denen üblicherweise Sklaven gefoltert wurden, und dass Christus selbst als einer dargestellt wird, der gerade nicht »auf dem falschen Weg der typisch imperialen Verfehlungen war. Nur weil er den Weg jenseits jeder imperialen Drangsalierung ging, konnte er Sklaven einen Freiheitsraum eröffnen« (194, Kursivierung original). Überaus aufschlussreich ist auch der Abgleich mit Jes 53,5 wo 1Petr z. B. die 1. Person Plural »durch seine Striemen sind wir geheilt« durch die 2. Person Plural »durch seine Striemen seid ihr geheilt« (2,24) ersetzt und damit wiederum die Perspektive der Sklavenerfahrung einnimmt, an der sich das Leben der gesamten Gemeinde ausrichten soll.

In Kapitel 5 (227–276) überschreitet S. schließlich die reine Textanalyse und zieht Schlussfolgerungen auf den historischen, den realen Verfasser. S. spricht von auctor consenior als Übersetzung der Selbstbezeichnung als συμπρεσβύτερος (Mitältester, 1Petr 5,1), um Elemente des impliziten Autors, des expliziten »Petrus«, die Wir-Stimmen und den realen Verfasser zu umschließen. Dessen Hauptaufgabe sei das Weiden (ποιμάνατε, 5,2) in einem identitätsstiftenden, den »Chronotopos« des Bundesverhältnisses Israels mit Gott erhaltenden (vgl. 244–250.256–264) »Raum des Bundes und der Gnade«, und nicht der imperialen Widersinnigkeit und Be- gierde (1,18; 4,2).

Als Anfang der Logik dieses Chronotopos bestimmt S. wiederum das Aufeinandertreffen von der Erfahrung ungerechten Sklavenleids und dem Leidensweg des Messias.Hier erhebe sich der Raum der Gnade bei Gott (2,20, 238). Als reale Zielgruppe des Briefes vermutet S. daher Sklavengruppen, die ungerechtem Leiden ausgesetzt sind: »Indem sie dem Ruf, in die Fußstapfen des leidenden Messias zu treten, Folge leisten, überschreiten die Sklaven die Grenze vom Chronotopos des Imperiums zum Chronotopos der Gnade« (241). Anders als in der Exoduserzählung könne derauctor consenior die Schwestern und Brüder allerdings nicht »aus dem Imperium, durch Schilfmeer und Wüste in das gelobte Land führen«, sondern »eschatologisiere« die Landverheißung als Erb- und/oder Zionserwartung (264 f.). Gruppenintern werde dieses befreite Leben jenseits aller imperialer Zwänge schon geführt, beschützt von Gott als κτίστης (Schöpfer, 4,19) im Sinne von Stadtgründer und φρουρουμένος (Bewacher, Bewahrer, 1,5) im Sinne von Bauherr besserer Schutzanlagen.

Aus all diesen Beobachtungen und Analysen wagt S. ganz am Ende seiner Studie Aussagen zum realen Abfassungsort und realen Autor (273–276): Die Wir-Stellen könnten »als vorsichtige Unterstützung« für eine Abfassung im geographischen Raum der Adressaten, und nicht in Rom, gewertet werden. Der reale Autor aber sei am ehesten als Teil derer zu identifizieren, die mit dem Weidegang der Schwestern- und Bruderschaft weg vom römischen Imperium hin zum Bund Israels mit Gott betraut sind: die Ältesten. Aufgrund der intensiven Nutzung des Israelbezugs sei er gut als Jude vorstellbar, aufgrund seines rhetorischen und analytischen Niveaus als gebildete Person. Die gegenüber Kol und Eph umgekehrte Anordnung der Einzelparänesen, die hohe paradigmatische Stellung des Sklavenleidens in Verbindung mit der Christologie des Briefes, die Erwähnung der Brutalität mancher Sklavenbesitzer sowie etliche weitere kleinere, aber umso vielsagendere Sprachindizien verwiesen auf den realen Autor als gebildeten Sklaven. Für S. könnte mit 1Petr also ein Text vorliegen, der von einem Sklaven für Sklaven geschrieben ist und doch auch von weiteren Leserkreisen Solidarität mit ihnen einfordert – und das wäre, so S., ein Unikum in der antiken Literatur (274 f.).

S. hat ein mutiges Werk vorgelegt, das tatsächlich zu neuen Perspektiven auf 1Petr einlädt. Gewiss kann man manche Texte im Detail auch anders deuten, z. B. wäre unter Annahme eines Sklavenautors bei der Übernahme von Jes 53,5 in 1Petr 2,24 doch gerade die originale 1. Person Plural »sind wir geheilt« passender als die exklusive 2. Person Plural »seid ihr geheilt«. Nichtsdestotrotz sind S.s Expositionen immer sorgfältig, spannend, teilweise geradezu kriminalistisch. Gelegentliche idiosynkratische Formulierungen wie »auctor consenior« oder »Bruder- und Schwesternschaft« bzw. »Schwestern- und Bruderschaft« statt der landläufigeren Begriffe »Gemeinde« nutzt er begründet.

Folgt man S., ist die Strategie des Autors von 1Petr subversiv, ja fast schon raffiniert: Unter der Chiffre gesellschaftlicher Anpassung und zahlloser findiger Anspielungen, die dem oberflächlichen Lesen entgeht, schwört er die Gemeinde auf eine theologische und christologische Alternatividentität gegen das römische Imperium ein, auf das eine grundlegend negative Sicht eingenommen wird. »Der Verfasser schreibt gleichsam ›Katakombenliteratur‹ aus dem Blickwinkel von Sklaven und Sklavinnen und all denen, die sich als Christianer mit ihnen solidarisieren.« (199) Das Leiden der Gemeinde soll nicht ohnmächtig hingenommen werden, sondern wird als – und zwar nicht nur für christianische Sklaven – ungerechte Qual verstanden zur Erprobung der Standfestigkeit und als Zeichen, dass sie sich auf dem Weg des Messias Jesus befindet (234). Damit rehabilitiert S. den Brief von dem Vorwurf, ein Unterwürfigkeitschristentum zu fordern und zu fördern, und stellt stattdessen als Grundanliegen des Briefes fest: »Es geht hier um eine solidarische Positionierung unterhalb der Herrschaftsstrukturen des Imperiums, an der die Arroganz der Macht zerschellen soll und von der aus die Schwestern- und Bruderschaft Sicht auf ihr eschatologisches Erbe bekommt.« (32)

Hut ab also schließlich auch für die Durchführung von S.s These! Diese Arbeit verdient nachdrücklichste Empfehlung!