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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

707-709

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Söding, Thomas

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Markus.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 496 S. = Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, 2. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783374053476.

Rezensent:

Martin Meiser

In diesem Kommentar legt Thomas Söding die Frucht seiner jahrzehntelangen Beschäftigung (vgl. u. a. Thomas Söding, Glaube bei Markus, Stuttgart 1985, 21987) mit dem Markusevangelium vor. In der Einleitung beschreibt S. dessen Aufbau nach geographischen Gesichtspunkten; forschungsgeschichtlich bemerkenswert ist die Zäsur vor Mk 4,35, begründet mit der Ausweitung des Wirkens Jesu innerhalb Galiläas und darüber hinaus. Markus war hellenistischer Judenchrist und schrieb um 70 aus Syrien oder Alexandria (so 9 mit Verweis auf die Alte Kirche) an eine mehrheitlich nichtjüdische »Lesegemeinde« (sic!, 10.12), die einer Vergewisserung bedarf und missionarisch aktiv ist. Neben Einzeltraditionen hat er wahrscheinlich einen alten Passionsbericht sowie Sammlungen von Streitgesprächen (Mk 2,1–3,6) und Parabeln (Mk 4,3–8.26–29.30–32) und die Endzeitrede zu einer spannungsvollen Einheit zwischen Traditionen des öffentlichen Wirkens und des ohnmächtigen Leidens Jesu verbunden. In Form einer dramatischen Erzählung entwickelt der Evangelist eine theologische Deutung Jesu, die als »Schule des Glaubens« (17) zur Nachfolge ruft.

Die Perikopen werden in der Regel im Dreitakt von Gliederung, Einzelexegese und historischer Rückfrage interpretiert; Kompositionsbögen werden u. a. zu Mk 1,21–39; 2,1–3,6; 4,1–34 gesondert thematisiert. Außerordentlich verdienstvoll sind die Einzelbibliographien: Es werden nicht nur die Titel genannt, sondern auch kurze Hinweise auf deren Anliegen und Hauptthesen gegeben. Neben deutscher und englischer ist auch französische, italienische, spanische und niederländische Literatur einbezogen. In der Kommentierung begegnen manchmal Hinweise zur (teilweise problematischen) Rezeptionsgeschichte in den verschiedenen Konfessionen (83.99.101.125.166.214.342 f.402.437.462). Erfreulich sind Stellungnahmen gegen antijüdische Verwertung (13. 83f.249.331.394).

Das Schwergewicht des Kommentars ruht eindeutig auf der theologischen Auslegung, geprägt von dem Anliegen, die »Schule des Glaubens« auf heute hin zu verstehen. Der »Heilsdienst« (76) bzw. die »Heilssendung Jesu« (101) beinhaltet Sündenvergebung wie äußere Heilung »in Vorwegnahme der eschatologischen Vollendung und damit als Ausdruck der Nähe Gottes, die im Glauben erfasst wird« (6). Jesu Wirken gilt nach Markus zuerst Juden (213 verweist S. auf Röm 1,16 als Parallele), dann aber auch Nichtjuden, ohne dass er sich von Israel abwendet. Zum Ethos dieser Heilssendung gehört es, dass Jesus als Sohn Gottes sich nicht selbst in den Mittelpunkt stellt, sondern den Weg des Dienens geht (225, zu Mk 8,11–13), dass er »auf Gewalt nicht mit Gegengewalt reagiert, sondern das Leiden zwar nicht sucht, aber annimmt« (441, zu Mk 15,29–32). Jesus hat von der Syrophönizierin »gelernt« (213); es spricht für das Interesse des Evangelisten »am wahren Menschsein Jesu« (214), dass er die Überlieferung nicht umschreibt. Dieses theologische Anliegen wird wiederholt in ebenso präzisen wie einprägsamen Formulierungen zur Sprache gebracht, so z. B. (!) zu Mk 1,31 in Verbindung mit Mk 15,40 f. (»dass nicht Subalterität prämiert, sondern Einsatz gewürdigt wird«, 57), zu Mk 4,32 (»die Jüngerschaft ist nicht der Ort, da sich die Verheißungen erfüllen, sondern die Gemeinschaft, in der die Hoffnung lebendig ist«, 137), zu Mk 8,16 (die Jünger »reflektieren etsi Christus non daretur«; 227) oder zu 8,22–26 (»Die historische Frage ist positiv zu beantworten, auch wenn kein narrativer Photorealismus herrscht, sondern aus der Erinnerung eine kondensierte Glaubensaussage getroffen wird«, 231) oder zum Jüngerunverständnismotiv: Die »Krise der Jünger ist nicht das Phänomen einer überwundenen Vergangenheit, sondern das Charakteristikum einer fordernden Gegenwart« (465). Mancher solcher Sätze ließe sich ohne Weiteres unverändert in eine Predigt übernehmen. Auf die gehaltvollen Auslegungen u. a. zu Mk 4,40; 9,23 f. (146–266) sei besonders hingewiesen. Nur gelegentlich finden sich m. E. Überdeutungen (so der letzte Satz zu Mk 1,11, S. 33).

Wie ist der Kommentar in zeitgenössischer Markusforschung zu verorten? Zunächst sei die Bezugnahme des Autors auf einzelne Forschungsrichtungen benannt. Der politisch-apologetischen wie der imperiumskritischen Deutung begegnet er aufgrund von Mk 10,41–45 einerseits, Mk 12,13–17 andererseits mit Skepsis (13.433; die Legio X Fretensis war »nie in der Dekapolis stationiert«, 151 Anm. 229). Die Shame-and-honour-Thematik ist gelegentlich präsent (249). Auch ist vorausgesetzt, dass das, was man in neuerer Gedächtnisforschung das semantische Gedächtnis nennt, mancher Tradition eine gewisse Verlässlichkeit zu attestieren hilft.

Wie lässt sich insgesamt der Zugang charakterisieren? Das Markusevangelium wird als Biographie verstanden und mit Hilfe narrativer Analyse unter reichem Aufweis intratextueller Vernetzungen ausgelegt; freilich dürfe diese Analyse »die Erzählung weder von ihrem Bezug auf Jesus noch von den Dynamiken ihrer Tradition und den Kontexten ihrer Genese isolieren« (5, Anm. 13). Das wird auch im Kommentar eingelöst.

Die Leistung des Evangelisten ist beides, die Leistung der integrierenden Komposition (92 u. ö.) wie der sprachlichen und theologischen Bearbeitung der Tradition. Der Unterscheidung von Traditions- und Redaktionsschichten wird öfters wohlbegründet eine Absage erteilt (30.35-85). Das gilt auch da, wo (m. E. zu Recht) Personaltraditionen vermutet werden (56 f.). Vernünftig ist es m. E. in der Tat, eine vorösterliche Jüngermission für historisch zu halten, gleichwohl auf eine Urform von Mk 6,6b–13 und ihrer synoptischen Parallelen zu verzichten (173). Die historische Rückfrage nicht hinsichtlich der Details, aber hinsichtlich eines Gesamtbildes eines Überlieferungszuges wird meist mit großem Zutrauen beantwortet: Die Speisungserzählungen gelten als »Verdichtung« (222; zu diesem Stichwort in solchem Zusammenhang vgl. auch 139) einer Praxis Jesu, Juden wie Nichtjuden in Gastmählern mit sich zu verbinden. Nicht selten begegnet die Charakterisierung, bestimmte Stellen spiegelten »zwar nicht ureigene Worte, aber typische Motive Jesu […] die der Evangelist aufgenommen und zu einer neuen Einheit komponiert hat« (251; vgl. 101.208.218.251.276.281.346.356 f. 413). So gilt auch: »Alle Menschensohnworte sind nachösterlich; aber alle fangen Reflexe der Verkündigung Jesu ein.« (76) Selbst Mk 8,14–21, »durchweg vom Evangelisten konstruiert« (228), fängt »eine charakteristische Facette des Verhältnisses Jesu zu seinen Jüngern ein: seine ständige Auseinandersetzung mit ihrem Unverständnis« (228). Historische Haftpunkte auch im Detail werden (m. E. zu Recht) u. a. da vermutet, wo sich Jesus mit seiner Position nicht durchsetzt (Mk 6,1–6a; 7,24–30) oder wo Hyperbolik herrscht (108; 110; 111 u. ö.). Hingegen spiegelt Mk 6,45–52 eine »österliche Erzählperspektive«, in der »im Grenzbereich von Mystik und Realistik … religiöse Urerfahrungen angesiedelt sind« (197).

Dieses elastische Modell betont die Kontinuität der Entwicklungen hin zur nachösterlichen Verkündigung. Bei Mk 2,1–3,6 wäre m. E. primär der Sonderweg der Jesusanhänger, bei Mk 9,11–13; 12,35–37 die inhaltliche Weiterentwicklung, bei Mk 3,4 sachkritisch die Verhärtung der Kontroverse mit den nicht an Jesus glaubenden Juden in den Blick zu nehmen, bei dem Unverständnis des Leidens Jesu die Schwierigkeit gegenüber griechisch-römischem Denken, trotz dieses Leidens Wahrheitsansprüche zugunsten Jesu zu plausibilisieren. S. betont zur markinischen Darstellung der Pharisäer zu Recht: »Markus bringt wenig heraus, dass sie als Reformbewegung auf die Heiligung des Alltags gesetzt haben.« (79 mit dem Verweis auf Josephus, Bell 2,162 ff. in Anm. 107) Differenzierungen dieser Art sind m. E. wichtig, um die theologische Leistung des Evangelisten, die S. so meisterhaft erfasst, auch historisch noch deutlicher zu fokussieren.

Insgesamt darf man S. zu diesem Kommentar herzlich gratulieren.